"Der kürzeste Weg aus der Armut ist der Schulweg"

23. Okt 2006

Argentinien/ Deutschland - Der Steyler Missionar Pater Josef Marx SVD kümmert sich in der argentinischen Provinz Misiones wie ein Vater um "seine" Guaraní-Indianer.

P. José Marx SVD mit einer Gruppe von Frauen der Guarani-Indianer in ArgentinienMit 70 Stundenkilometern rattert der Jeep über die Sandpiste. Eine rote Sandwolke steigt auf und ist noch nach mehreren hundert Metern zu sehen. Rechts und links der Piste liegt dichter Dschungel. Der Dschungel von Misiones, der nordöstlichsten Provinz Argentiniens. Geschickt steuert der Steyler Missionar, Pater Josef Marx SVD das robuste Fahrzeug über alle Unebenheiten. "Wir müssen noch vor Einbruch der Dunkelheit bei den Indianern sein", sagt Marx. Er hat neue Matratzen und pflegeleichte Baumwolldecken geladen. Ein befreundeter Unternehmer hat sie ihm für einen guten Preis überlassen. Heute Nacht soll es kalt werden und viele Indianerkinder schlafen auf der nackten Erde. Erst vergangene Woche sind wieder sieben an Unterkühlung und Unterernährung gestorben. Nichts Ungewöhnliches in Misiones. "Die Zeitungen berichten darüber, die Provinzregierung schickt dann, um ihr schlechtes Gewissen zu beruhigen, einen LKW mit Decken in den Busch und das war´s", sagt Marx. So läuft das immer, doch im Grunde ändert sich gar nichts. Es werden immer nur Symptome bekämpft, aber nichts an der grundlegenden Situation geändert. Der 72-jährige Marx hat im Laufe seines Missionarslebens einigen hundert Indiofamilien feste Unterkünfte mit sanitären Anlagen gebaut. Er hat dafür gesorgt, dass sie im Winter nicht im Freien kochen und die Frauen ihre Kinder nicht unter einem Baumverschlag zur Welt bringen müssen. Die Indianer vom Stamm der Guaraní stehen am Rande der Gesellschaft, kaum einer macht sich für sie stark. Für die Regierung sind sie ein nach wie vor ungelöstes "Problem", da sie sich nur selten in die westlich zivilisierte Gesellschaft Argentiniens integrieren lassen. Der Grund: Im Laufe der Geschichte sind ihre Vorfahren häufig Opfer kriegerischer Auseinandersetzungen gewesen, das Misstrauen gegenüber den Weißen ist nach wie vor groß. "Noch immer leben die meisten Guaraní-Indianer wie zu Zeiten der spanischen Kolonialherrschaft, mit und von der Natur", sagt Marx. Nur mit dem Unterschied, dass es diese in Misiones immer weniger gibt. Allerorten werden die Wälder abgeholzt, weil in den Papierfabriken ein ständiger Bedarf an Holz besteht. Der Urwald verschwindet nach und nach und an seiner Stelle werden großflächig Fichten angepflanzt. Die wachsen rasch und können dennoch kaum den steigenden Holzbedarf decken. Die Artenvielfalt verschwindet. "Leidtragende sind die Indios, die sich nicht mehr von dem ernähren können, was ihnen der Urwald einst gab, und stattdessen auf Hilfslieferungen von außen angewiesen sind", sagt Marx.

 

Schulen für die indianische Landbevölkerung

Pater Marx arbeitet seit mehr als vierzig Jahren in Argentinien. In der Provinz Misiones ist er so etwas wie eine "Institution". Die Leute respektieren und schätzen den hoch gewachsenen Mann. Selbst bei Polizeikontrollen salutieren ihm die Beamten und gewähren dem Geistlichen freies Geleit. Neben seinem Fahrersitz hängt ein Bild der schwarzen Madonna von Tschenstochau. Pater Marx ist als Kind nach dem Krieg aus Schlesien vertrieben worden und mit seiner Familie im Weserbergland groß geworden. Wie so viele aus seinem Heimatdorf Deutsch-Rasselwitz / Neustadt. Seine Mutter war bei seiner Geburt gestorben. Ihr letzter Wunsch sei es gewesen, dass aus dem kleinen Josef mal ein "guter Mensch, wenn nicht gar ein Priester wird", erzählt Marx. Dies erfuhr er am Tag seiner Priesterweihe durch eine Freundin seiner Mutter. Mit 21 Jahren war er bei den Steyler Missionare eingetreten und hat seither in Argentinien vieles erfolgreich auf die Beine gestellt. Allein 20 landwirtschaftliche Oberschulen, so genannte "Escuelas de la Familia Agrícola" (EFA) gehen in der Provinz Misiones auf sein Konto. Kinder aus Einwandererfamilien, Einheimischen und Indianerfamilien können dort das Abitur machen und gleichzeitig landwirtschaftliche Grundkenntnisse erwerben. "Der kürzeste Weg aus der Armut ist der Schulweg", pflegt Marx immer zu sagen. Seine Lebensweisheit hat sich bewährt. Denn viele der EFA-Absolventen haben nach ihrem Abschluss weiter studiert und können für sich und ihre Familien heute den Lebensunterhalt verdienen, was in Argentinien nicht selbstverständlich ist. Nach offiziellen Statistiken des Sozialministeriums leben 40 Prozent der Argentinier unterhalb des Existenzminimums. Die Schere zwischen arm und reich ist in den letzten Jahren immer größer geworden.  

Nach drei Stunden Fahrt kommt Marx in der Indianersiedlung an. Es ist inzwischen dunkel geworden. Eine Reifenpanne zwischendurch hat seinen Zeitplan durcheinander gebracht. Auf dem Hauptplatz der Siedlung brennt ein Feuer, um das herum sich der Häuptling und einige ältere Indianer in Decken verhüllt versammelt haben. "Die Frauen und Kinder schlafen schon", sagt Marx. Er kurbelt das Fenster herunter und ruft einen der Männer herbei. Marx nähert sich den Hütten. Von "Schlafen" kann in der Indianersiedlung kaum die Rede sein. Meist liegen die Frauen, Alte und Kleinkinder unter irgendwelchen Astgeflechten auf bloßer Erde und schmiegen sich aneinander, um sich zu wärmen. Der August ist in Argentiniens der kälteste Monat des Jahres. Vor allem nachts können die Temperaturen bis knapp unter Null Grad sinken. Tagsüber scheint die Sonne, doch sie wärmt nicht - quema pero no calienta, sagen die Einheimischen.

 

Für fast alles eine Lösung

Nach einem kurzen Gespräch mit dem Häuptling, ein 25-Jähriger, der die Geschicke des Dorfes leitet und den Kontakt nach Außen hält, können die Matratzen abgeladen werden Als einziger in der Siedlung spricht der Häuptling Spanisch. Einige der Frauen kommen müde unter den Astverschlägen hervor gekrochen, einige haben Säuglinge dabei, die sie an die Brust halten. "Damit haben wir ja gar nicht gerechnet", bedankt sich der Häuptling. Er lächelt. Im Nu ist die Ladung ausgepackt. Helfer bringen die behelfsmäßigen Betten in die Hütten und verteilen sie an die Bewohner. Vorsorglich hat der Steyler Pater noch mehrere stabile Plastikplanen mitgebracht, die er im Schein seiner batteriebetriebenen Stablampe ausrollt und auf denen die Matratzen verteilt werden. Marx und der Häuptling kennen sich gut. "Er ist wie ein Vater für mich", sagt der Häuptling. Regelmäßig schaut Marx vorbei, um nach dem Rechten zu sehen. Mal ist es die Pumpanlage, die repariert werden muss, oder eine Holzwand, die von Termiten zerfressen wurde. Pater Marx, der auch handwerklich begabt ist, hat für fast alles eine Lösung parat. Und wenn er mal besondere Hilfe benötigt, hat er immer einen Spezialisten zur Hand, der ihm zur Seite steht. "Im Studium haben sie uns damals nicht nur Theologie, sondern auch Bauzeichnen und Sozialkunde gelehrt", erzählt Marx. Davon profitiere er bis heute. "Bauen ist für mich eine Form des Betens, da es Menschen hilft, der Armut zu entfliehen", sagt Marx.

 

Auf Gottvertrauen gebaut

Nur selten hat Marx das Geld zusammen, wenn er ein neues Haus plant. Meist reicht es für ein bis zwei Monate. In der Zwischenzeit muss er neue Mittel auftreiben. "Ich hangel mich dann von Zimmer zu Zimmer, immer mit der Gewissheit, dass es Gottes Wille ist, dieses Haus zu bauen", sagt er. Auf diese Weise sind in den zurückliegenden Jahren zahlreiche Gebäude, Kapellen und sogar eine Radiostation entstanden. Die erste Kapelle hat Marx als junger Missionar mit 31 gebaut, und dann immer weiter Erfahrungen gesammelt, erzählt er. "Ich stehle mit den Augen", sagt er verschmitzt. Von erfahrenen Maurern und Technikern hat er sich nach und nach abgeguckt, wie sich einfache und stabile Wohnhäuser bauen lassen. Die waren dann Vorbild für seine Landwirtschaftsschulen.  

Die Decken und Matratzen sind verteilt. Es bleibt noch ein wenig Zeit für ein Schwätzchen am Feuer. Der Tag war für den Steyler Pater wieder lang und er lässt ihn gerne ruhig ausklingen. Der Häuptling reicht ihm einen heißen Becher Mate-Tee.

 

Festes Einkommen garantiert

Am nächsten Morgen. Blauer Himmel, die Sonne scheint. Mit dem Auto geht es weiter durch die Provinz Misiones. Links und rechts der Überlandstraße stehen vereinzelt Hütten und Holzverschläge, zum Teil im Wald, zum Teil auf gerodeten Flächen. Davor sitzen Guaraní-Indianer und fertigen kleine Holzschnitzarbeiten. Marx stoppt das Fahrzeug, steigt aus und geht über die Straßenböschung zu den Leuten an der Waldlichtung. "Hóla Padre", begrüßen sie ihn freudestrahlend. Pater Marx fungiert für sie als Zwischenhändler. Er garantiert den Indios für ihre Arbeiten einen festen Preis. Auf diese Weise hat er schon zahlreichen Familien ein festes Einkommen beschert. "Wir haben in unserem Pfarrhaus in Capiovi ein Verkaufslager, wo ich die Sachen an Touristen zu einem höheren Preis verkaufe", sagt er. Von dem Gewinn zahlt Pater Marx den Transport und das Gehalt für eine halbtags beschäftigte Buchhalterin, die über jeden Vorgang genau Registratur führt. Fachmännisch begutachtet Marx die angefertigten Kunstgegenstände. "Ich achte sehr auf Qualität", sagt er. Dann seien die Touristen auch bereit, einen guten Preis zu zahlen "und der kommt schließlich auch den Indianern zugute", sagt er. Er spricht mit dem Indianer und dessen Frau und bald sind sie sich über den Preis einig.

"Ich fühle mich für `meine` Indianer verantwortlich", sagt Pater Marx. Für den Staat sind sie eine Last, für Marx sind es Menschen, Söhne und Töchter, für die er sich wie ein Vater verantwortlich fühlt. "Wir haben schon viel erreicht", sagt er. Als er in den sechziger Jahren anfing, war die frühe Sterblichkeit unter den Guaranís noch wesentlich höher. Kaum einer konnte lesen und schreiben, auch handwerklich waren die wenigsten ausgebildet. Heute besuchen Ärzte und Krankenschwestern regelmäßig die Dörfer der Guaranís, impfen die Kinder und behandeln die Kranken und Gebrechlichen. Dank hartnäckiger Interventionen Marx` bei der Provinzregierung. Dennoch bleibe noch viel zu tun, so Marx. Als nächstes plant er den Bau eines Forschungsinstituts für Bienenzucht und Maniokanbau, damit das Konzept seiner landwirtschaftlichen Oberschulen weiter Früchte trägt.

Benedikt Vallendar