"Kinder haben fast immer Hunger"

10. Dez 2006

Im indischen Bundesstaat Andhra Pradesh sind Steyler Missionare für Straßenkinder im Einsatz - Hindu-Extremisten machen ihnen mitunter das Leben schwer.

Im Schritttempo und mit lautem Hupen bewegt sich die Wagenkolonne vorwärts. Am Steuer des verbeulten Renault 6 sitzt der Steyler Missionar, Pater Bernard Mundapulam SVD. Neben ihm sein Mitbruder Bruder Alphonse Anithaliyoor SVD. Sie sind unterwegs ins Zentrum der 600.000-Einwohner- und Bischofsstadt Guntur im indischen Bundesstaat Andhra Pradesh. Im Kofferraum hat der Missionar Decken, Verbandsmaterial, Zwieback, Trockenobst und Milch gebunkert. "Um zwölf erwarten uns die Kinder", sagt Mundapulam. Aber wie immer sind die Straßen heillos verstopft. Von überall her strömen die Leute, zumeist Bauern vom Lande, in die Stadt, um auf dem Markt ihre Produkte anzubieten. Das ein ums andere Mal muss der Pater husten, weil der Auspuff des Vordermanns eine dicke Rauchwolke ausgestoßen hat. Die Sonne steht hoch am Himmel. In Guntur herrscht tropisches Klima. Eselskarren, Handwagen und zahlreiche Passanten mit Taschen und Tüten bepackt säumen die schmalen Fußwege. Wer ins Zentrum will, ist auf die wenigen Einfallstraßen angewiesen, durch die sich alltäglich Tausende drängen. Und auch wer Geschäfte machen will, der muss ins Zentrum. Dahin, wo die Markthallen und Ladenlokale sind und wo sich die meisten Touristen tummeln, auf der Suche nach Souvenirs aus Andhra Pradesh und Umgebung. Ein wenig erinnert die Verkehrssituation in Guntur an das biblische Gleichnis vom Kamel, das durch ein Nadelöhr geht. Seltsamerweise scheint das hier tatsächlich zu funktionieren. Denn obwohl sich der Tross nur langsam durch die engen Schneisen und Gassen bewegt, so bleibt er doch niemals stehen. Von Stillstand kann in Guntur keine Rede sein. - Die Fahrt geht weiter und nach anderthalben Stunden Fahrt sind die Missionare am Ziel. Der Pater parkt das Auto an einer freien Stelle nahe einer belebten Straßenkreuzung und hupt dreimal kurz. Im Nu ist sein Wagen von Kindern und Jugendlichen zwischen sechs und sechzehn umringt. "Sie wissen, dass wir mittags immer kommen", sagt Mundapulam lächelnd. Er selbst kommt aus einer kinderreichen Familie. "Aus Erfahrung weiß ich, dass Kinder fast immer hungrig sind", sagt er augenzwinkernd. Heute sind die Missionare spät dran. Bruder  Anithaliyoor steigt aus, öffnet den Kofferraum und beginnt, die Milch in kleinen Pappbechern auszuschenken. Dazu verteilt er den mitgebrachten Proviant. Die Schar wird immer größer. Es hat sich rasch herumgesprochen, dass es etwas zu essen und zu trinken gibt.

 

Am liebsten Cola 

Die paar Münzen, die die Kinder am Tag durch alle möglichen Dienst- und Hilfsleistungen verdienen, reichen kaum für eine regelmäßige Mahlzeit. Ihren dünnen Armen und Beinen ist anzusehen, dass sie nicht regelmäßig essen und wenn, dann nur den Abfall, der ihnen an irgendeinem Marktstand zufällig in die Hände fällt. "Viele ernähren sich von Brotresten, faulendem Obst und Cola, die es überall billig zu haben gibt", sagt Anithaliyoor. Die schlechte Ernährung macht sich allerorten bemerkbar, viele Kinder haben Karies, die sichtbar wird, sobald sie einen mit ihren gewinnenden Gesichtern anstrahlen. Und sie lachen oft, trotz, der Tristesse, die ihren Alltag umgibt. 

Die Steyler Missionare in der Diözese Guntur kümmern sich seit mehr als zehn Jahren um Kinder, die von ihren Eltern verstoßen wurden, weil zu Hause kein Platz für sie war oder das Familieneinkommen nicht ausreichte, um alle ernähren zu können. "Straßenkinder gehören zur gesellschaftlichen Realität Indiens", sagt Mundapulam. Viele leiden an Mangelerscheinungen und sind krank. Und überall sind sie anzutreffen, in kleinen Städten ebenso wie in den Metropolen. Trotz seines bemerkenswerten Wirtschaftswachstums zeigt sich Indien im Alltag noch immer wie ein "klassisches" Dritte-Welt-Land.

 

Gewinner und Verlierer 

Die Situation im Bundesstaat Andhra Pradhesh steht sinnbildlich für das, was gesellschaftlich auf dem Subkontinent vor sich geht: Immenser Reichtum, wirtschaftliche Dynamik und Konsumdenken auf der einen und erschreckende Armut auf der anderen Seite. Indiens Mittelschicht wächst, doch fast ausschließlich in den Städten. Dort sind nur wenige bereit, von ihrem erarbeiteten Wohlstand etwas abzugeben. Die Spendenbereitschaft zugunsten armer Kinder ist in Indien, wie in fast allen Schwellenländern, nur gering ausgeprägt.  

Das fragile, staatliche Bildungs- und Gesundheitssystem deckt bei weitem nicht die Bedürfnisse aller Menschen, die tagtäglich vom Land in die Metropolen strömen. Die Leidtragenden sind, wie fast immer, Kinder und ihre allein stehenden Mütter, die kaum ein Auskommen finden, um sich und ihre Kleinen über Wasser zu halten. Kinderprostitution, offiziell natürlich verboten, gehört in manchen Vierteln schon so zur Normalität, dass sich kaum noch jemand darüber aufregt. Die Polizei schaut weg oder macht mit den Bordellbesitzern gemeinsame Sache. Korruption ist nur eines der Probleme, unter denen die aufstrebende Industrie- und Dienstleistungsnation leidet.

 

Zurück ins 3. Jahrhundert vor Christus 

Doch wer glaubt, dies seien alles nur Phänomene der Moderne, der irrt. Die Geschichte der Region, die heute den Bundesstaat Andhra Pradeshs umfasst und die bis ins 3. vorchristliche Jahrhundert zurückreicht, war schon immer geprägt von Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Volksgruppen. Es ging um Vorherrschaft und Einfluss, um den Zugang zu den natürlichen Ressourcen und um Land. So wundert es nicht, dass, wenn von Indien als Land der High-Tech-Industrie die Rede ist, nur ein kleiner Teil der Bevölkerung daran teilhat. Die Opfer sind zumeist Kinder vom Lande, da sie nur über eine geringe bis gar keine Schulbildung verfügen und kaum in der Lage sind, als Jugendliche ihren Weg in das vermeintliche Wirtschaftswunderland zu finden. Lange bevor die Steyler Missionare im Jahre 1936 in Indien mit ihrer Arbeit begannen, hat es diese Zustände gegeben. "Schon immer gab es in Andhra Pradhesh Gewinner und Verlierer", sagt Mundapulam. "Mit unserer Arbeit vor Ort wollen wir dazu beitragen, dass wenigstens die ärgste Not gelindert wird." 

 

Einigkeit unter den Religionen 

Die Steyler Missionare leisten mit ihrer Arbeit einen Beitrag zum friedlichen Zusammenleben der Kulturen und Religionen in Andhra Pradesh. Denn nur 1,6 Prozent der Bewohner sind Christen. Knapp 90 Prozent sind Hindus und acht Prozent bekennen sich zum Islam. Hinzu kommen kulturelle und sprachliche Barrieren, die das Entstehen einer indischen "Identität", die auch der wirtschaftlichen Entwicklung der ländlichen Regionen zugute käme, nahezu unmöglich macht. "Wir helfen auch in Gegenden, wo fast nur Muslime und Hindus leben", sagt Mundapulam. Er freut sich, dass die Hilfe der Steyler auch von religiösen Vertretern des Islam dankbar aufgenommen wird. Deren Führer schätzen die Arbeit der Missionare unter den Kindern und unterstützen sie, wo sie nur können. "Im Wunsch, das Wohlergehen der heranwachsenden Generation zu fördern, unterscheidet sich eben keine Religion", sagt Mundapulam. "Die Not ist hier teilweise so groß, dass religiöse Grenzen verschwinden, sobald es darum geht, Kindern eine sichere Obhut zu geben", sagt er. Denn darin sind sich alle Religionen einig: Kindern gehört die Zukunft und es muss alles getan werden, dass sie in Würde aufwachsen. In Puthur, das im benachbarten Bistum Cuddapah liegt, haben Mitbrüder der Steyler Missionare ähnlich gute Erfahrungen mit Muslimen gemacht. Mit Unterstützung des Bischofs wurde dort vor wenigen Jahren ein Heim für Straßenkinder errichtet. Die soziale Not ist in diesem Bistum so groß wie in anderen Regionen. "Diese Kinder haben keinen familiären Halt und nur selten Wärme erfahren", sagt Mundapulam. Sie leben auf der Straße und schlafen unter freiem Himmel am Straßenrand. Indien gehört zu den Ländern mit einer hohen Geburtenrate und so bleibt es nicht aus, dass die Früchte des indischen Wirtschaftswachstums bei weitem nicht allen zugute kommen. "Die Mitbrüder sprechen sie auf der Straße an und holen sie in die Einrichtung", sagt Mundapulam. Dort erhalten sie regelmäßige Mahlzeiten und übernachten in geschützten Räumen.

 

Extremisten behindern die Arbeit 

Nicht immer stößt das Engagement der Steyler auf Gegenliebe. Es ist schon vorgekommen, dass extremistische Hindus die Missionare der "Zwangsbekehrung" beschuldigt haben und anschließend Brandanschläge auf Kirchen, katholische Heime und Schulen verübt wurden. "Wir wissen, dass Christen hier nur eine kleine Minderheit bilden und wir uns entsprechend vorsichtig verhalten müssen, wenn wir öffentlich unsere Hilfe anbieten", sagt Mundapulam. Denn das Engagement der Steyler und anderer katholischee Ordensgemeinschaften legt zugleich die Missstände offen, die der Staat und die nicht-christliche Gesellschaft zu verantworten haben. Das schafft Neid und Frust über das eigene Versagen. Heikel ist auch die Bildungssituation. Die Analphabetenquote liegt in Andhra Pradesh bei rund 40 Prozent. Trotz allgemeiner Schulpflicht werden vor allem auf dem Land längst nicht alle Kinder eingeschult. Verkompliziert wird die Lage noch durch die Sprachenvielfalt. Erste Unterrichtssprache an Grund- und Oberschulen ist in der Regel die Amtssprache Telugu. Der Unterricht kann jedoch auch in einer der anderen anerkannten Nationalsprachen Indiens erteilt werden, sofern mindestens zehn Schüler einer Klasse und mindestens 30 an der gesamten Schule die entsprechende Sprache zur Muttersprache haben. Auf andere Minderheitensprachen wird oft nur wenig Rücksicht genommen. So kommen manche Schüler in die Schule, ohne dem Unterricht folgen zu können und gehen dann ohne Abschluss ab. 

Inzwischen ist Anithaliyoor seine Lebensmittel losgeworden. Der Kofferraum ist leer. Einigen Kinder hat er noch Decken gegeben, damit sie nachts nicht auf der nackten Erde schlafen müssen. Denn nur wenige Kinder können in einem der Steyler Heime übernachten. Es klingt paradox, aber manchmal dauert es doch eine Weile, bis sie sich wieder an geschlossene Räume gewöhnt haben. Deshalb bieten die Missionare ihre Hilfe an, ohne in irgendeiner Weise Zwang auszuüben. Zum Schluss verteilt der Steyler Bruder noch drei Kisten Apfelsinen, die ihm ein wohlhabender Bauer geschenkt hat. "Orangen sind gesund", sagt Anithaliyoor lächelnd, und außerdem schmecken sie allemal besser als Cola.

Benedikt Vallendar