Sie leben vom Abfall der Großstadt

08. Nov 2006

Steyler Missionare kümmern sich im Zentrum von Buenos Aires um Müllsammler und deren Angehörige

Gabriela - eine junge Frau, die vom Müllsammeln lebt.

"Heute habe ich 28 Peso, also etwas mehr als sieben Euro verdient", sagt Gabriela. Die 26-Jährige wischt sich den Dreck aus dem Gesicht und greift beherzt in den Beutel mit Butterbroten, den ihr der Steyler Missionar, Pater Krzysztof Domanski SVD reicht. Die erste Mahlzeit nach einem anstrengenden Tag. Dazu gibt es heißen Tee, der in Pappbechern ausgeschenkt wird. Gabriela steht an einer Straßenkreuzung im Zentrum von Buenos Aires. Kolonnen von Autos quälen sich durch den Feierabendverkehr, es ist kurz vor sechs, bald wird es dunkel sein. Gabriela sieht älter aus als sie ist, gezeichnet vom Leben auf der Straße. Sie trägt Jeans und einen verfilzten Wollpullover, darüber einen grauen Arbeitskittel. Die junge Frau arbeitet als Müllsammlerin im Zentrum der argentinischen Hauptstadt. Ihr "Revier" hat sie rund um die Straßenzüge an der Casa Rosada, dem Sitz des Staatspräsidenten. Sie klaubt Papier und Plastik aus städtischen und privaten Mülltonnen und sammelt es in einem Handkarren. Manchmal fragt sie auch in Schuhläden nach leeren Kartons, doch zumeist wird sie schon am Eingang abgewimmelt. Den Inhalt bringt Gabriela kiloweise für ein paar Centavos zu Zwischenhändlern, die das Zeug in großen Paletten an Recyclingfirmen verkaufen. Vor einer halben Stunde ist sie ihre letzte Ladung für heute losgeworden.

 

Leben am Rande der Gesellschaft  

Von den Leuten werden Menschen wie Gabriela Cartoneros genannt, von spanisch "cartón" Karton. Es gibt sie zu hunderten im Stadtzentrum von Buenos Aires. Und es werden täglich mehr. Manche schlagen sich mit anderen, einfachen Dienstleistungen durch. Sei es als Autowächter, Bonbonverkäufer oder mobiler Windschutzscheibenputzer an einer der zahllosen Kreuzungen und Ampeln im Zentrum. Sie kommen aus dem Norden Argentiniens, aus den armen Regionen am Grenzfluss Uruguay und aus Brasilien. Sie sind meist Indios vom Stamm der Guaraní und Mestizen und wohnen im Süden und Südwesten der 13-Millionenmetropole. "In einem rohstoffarmen und inzwischen wirtschaftlich wieder pulsierenden Land wie Argentinien sind Plastik und Papier begehrte Grundstoffe für die Industrie", erklärt Pater Domanski. Er ist Spiritual im Colegio Guadalupe, einem Gymnasium der Steyler Missionare mit angeschlossener Grundschule im Zentrum von Buenos Aires. Noch zu Lebzeiten des Ordensstifters Pater Arnold Janssen SVD (1837-1909) wurde es im Jahre 1903 eröffnet.

P. Domanski und einige Schüler betreuen die MüllsammlerEinmal in der Woche, immer Mittwochs, geht Pater Domanski zusammen mit einer Gruppe Schülern hinaus zu den Cartoneros, um sie mit Getränken und Butterbroten zu versorgen. "Das ist ein Teil unseres Erziehungskonzepts", sagt Domanski. Die Schüler sollen früh ein Gespür für die Bedürfnisse anderer Menschen entwickeln und Verantwortung übernehmen. Immer mittwochs treffen sie sich in der Großküche des Colegio, beten gemeinsam und bereiten dann alles vor. Die Kosten für Brot, Aufschnitt, Quark und Frischgemüse übernehmen Wohltäter aus Deutschland. Im Schnitt schmieren die Schüler zweihundert Brote. Verpackt in Kunststoffbeuteln ziehen sie dann gruppenweise los. In jeder Gruppe befindet sich ein Steyler Missionar, der den Schülern Anleitungen gibt und bei möglichen Kontrollen durch die Polizei zur Seite steht. "Inzwischen kennen uns die Beamten hier im Viertel", sagt Domanski. Doch manchmal kommt es auch zu unangenehmen Zwischenfällen, etwa wenn Betrunkene und Drogensüchtige durch aggressives Verhalten auffallen. So ist es gut, wenn immer einer der Missionare dabei ist.

 

Städte als Anziehungspunkte

"Ich habe fünf Kinder", beginnt Gabriela zu erzählen. Sie wirkt müde. Das Jüngste ist erst wenige Wochen alt und wird von der Großmutter versorgt. Der Vater hat sich aus dem Staub gemacht, als er von ihrer Schwangerschaft erfuhr. Wie so viele der Cartoneros kommt auch Gabriela vom Land, aus einem kleinen Dorf im Nordosten des Landes. "Wir hatten kein fließend Wasser und nur manchmal Strom", sagt sie. An höhere Schulbildung war nicht zu denken. Der Lehrer kam drei Mal die Woche und unterrichtete sechs Altersklassen gleichzeitig. Mit zwölf Jahren verließ Gabriela die Schule, half ihrer Mutter im Haushalt oder verdingte sich als Erntehelferin. Von einem ihrer damaligen Kollegen wurde sie zum ersten Mal schwanger. Da war sie gerade 15. Als die Situation zu Hause immer prekärer wurde, in der Zwischenzeit war noch ein weiteres Baby zur Welt gekommen, packte sie ihre Sachen und verließ das Dorf. Ein Bus brachte sie und ihre beiden Kinder aus der Provinzhauptstadt Posadas in die Hauptstadt. Dort wollte sie, wie viele, Arbeit suchen. Das Ticket für die rund 1200 Kilometer lange Strecke hatte ihr ein Verwandter besorgt. Die Großeltern waren schon Jahre zuvor nach Buenos Aires gezogen. Gabriela hatte zumindest eine Bleibe. Sie machte erneut mehrere Männerbekanntschaften und bekam im Laufe der Jahre drei weitere Kinder. Ihre Stellen als Hausangestellte war sie immer schnell wieder los. Mutterschutz und Lohnfortzahlung sind in Argentinien nur fest Angestellten vergönnt. Dienstmädchen ohne Arbeitsvertrag wie Gabriela haben in der Regel das Nachsehen.

 

Netzwerk der Armen 

Seit dem Finanzcrash von 2001 hat sich in Argentinien die Situation derjenigen, die am Rande leben, noch weiter verschlechtert. Und von jeher bilden die Städte in Lateinamerika Anziehungspunkte für Menschen aus der Peripherie, die sich dort ein Einkommen und eine bessere Zukunft für ihre Kinder erhoffen. Glücklich können sich diejenigen schätzen, die Verwandte oder Freunde haben, bei denen sie kurzfristig Unterschlupf finden. Meist bevölkern sie den Süden der Stadt. Besucher, die vom internationalen Flughafen kommend, mit dem Taxi die mehrspurige Avenida befahren, sehen links und rechts der Fahrbahn die heruntergekommenen Stadtviertel von Espeleta und Dársena Sur, wo Drogenkonsum, Prostitution und alle Formen der Kriminalität einen günstigen Nährboden finden. So war es auch bei Gabrielas Brüdern. Der eine ist bei einer Schießerei ums Leben gekommen, der andere sitzt im Gefängnis, weil er am Überfall auf eine Tankstelle beteiligt war. Von dem wenigen, was Gabriela nach Hause bringt, lebt im Moment die ganze Familie, denn die Großmutter bekommt keine Rente und kann nicht mehr arbeiten.

 

"Lebensnahe" Theologie 

Dankbar nimmt Gabriela das Angebot Pater Domanskis an, sie im Kleinbus der Steyler nach Hause zu fahren. Die Schüler sollen mitfahren, damit sie sehen, wie und wo Gabriela wohnt. Denn zumeist kommen die Angehörigen des Colegio Guadalupe aus der gehobenen Mittelschicht. Ihre Eltern haben gute Berufe und können ihren Kindern eine gute Schuldbildung ermöglichen. Das Steyler Gymnasium zählt zu den renommiertesten und ältesten Schulen der Stadt. Die Schüler wissen indes nur wenig von der Lebenssituation der Armen in ihrem Land. Zwar sehen sie die Armut täglich auf der Straße, doch spätestens nach Schulschluss, wenn sie nach Hause fahren, ist damit Schluss. "Wir verfolgen an der Schule das Ziel einer `lebensnahen Theologie`", erklärt Domanski. Wenn die Schüler erfahren, wie und wo Menschen in diesem Land leben müssen, dann entwickeln sie schneller Verständnis für deren Situation. Christliche Nächstenliebe bekommt ein Gesicht. "Die Steyler Missionare wollen mit ihrem Bildungs- und Erziehungskonzept der Diskriminierung von Armen und Ausgestoßenen vorbeugend entgegen wirken", sagt Domanski.  

Gabriela parkt ihren Handwagen an einer Straßenecke, wo er zusammen mit anderen bis morgen früh bewacht wird. Ein selbst gezimmertes altes Ding, mit zwei großen Holzrädern und Schimmelspuren von der Feuchtigkeit. Denn Gabriela arbeitet auch bei Regen. Dem Wächter, einem illegalen Einwanderer aus Peru, muss sie 70 Centavos, rund 15-Euro-Cent zahlen. In Buenos Aires lebt einer vom anderen und auch die Armen haben ihre Netzwerke geschaffen, die ihnen ein minimales Überleben ermöglichen.

 

Elegantes Stadtzentrum

Dann stiegen alle ein. Es ist dunkel und windig kalt. Die Fahrt geht über eine der Ausfallstrassen gen Süden. Mitten durchs Zentrum, vorbei am berühmten Teatro Colón, vorbei am Obelisken an der Avenida 9 de Julio, dem Wahrzeichen von Buenos Aires, und vorbei an glitzernden Reklametafeln und eleganten Cafés, in denen sich Besserbetuchte zur abendlichen Tertulia, der Abendgesellschaft treffen. Diese Welt ist für Gabriela fern, aber nicht fremd, weil sie von morgens bis abends in ihr lebt. Fast zumindest. Denn sie weiß, wie es dort zugeht. "In den großen Hotels und Restaurants hole ich am meisten aus den Mülleimern, und oft sind die Geschäftsführer froh, wenn sie auf diese Weise nicht überquillen", sagt sie.

 

Müll und Autowracks

Das Buenos Aires der Reichen und Schönen hat der Bus bald hinter sich gelassen. Es ist dunkel geworden. Nicht alle Straßen sind beleuchtet und Pater Domanski muss auf Schlaglöcher achten, die überall lauern. Die Gegend wird unwirtlich. Jugendliche lungern vor brennenden Tonnen herum und kaputte Autowracks blockieren so manche Seitenstraße. Manchmal sind es auch nur Unrat und herumfliegende Pappkartons, die über die Fahrbahn verteilt liegen. Der Pater gibt Gas, denn langsam fahrende Fahrzeuge können hier in den unübersichtlichen Außenbezirken von Buenos Aires zur leichten Beute von Straßenräubern werden. Meist wird das Auto unter einem Vorwand angehalten und dem Fahrer dann unverhofft eine Pistole an den Kopf gehalten. "Wir wären nicht die ersten, die auf diese Weise Opfer eines Überfalls werden", sagt Domanski.

 

Leben in der Mietskaserne

Nach halbstündiger Fahrt erreicht der Kleinbus Gabrielas Heim. Zwei winzige Zimmer im dritten Stock einer heruntergekommenen Mietskaserne. Im unbeleuchteten Hausflur riecht es nach ungewaschener Wäsche und Alkohol. Von irgendwoher kommt laute Radiomusik und jemand brüllt von oben herab, was aber nicht zu verstehen ist. "Wir müssen ruhig sein, die Kleinen schlafen schon", sagt Gabriela. Die Großmutter schlummert im Nebenzimmer. Gabriela bereitet einen Mate-Tee zu. Getrunken wird er zumeist aus einem metallenen Gefäß, das einer Blumenvase ähnelt und in dem ein eisernes Röhrchen steckt. Der Mate ist herb-süß und schmeckt frisch aufgegossen am besten. Die Schüler lassen den Becher reihum gehen. Gabriela heizt den kleinen Ofen, die Estufa mit einer Brennbirne aus dem Supermarkt an. Es wird wohlig warm. Nach einer Stunde verlässt die Gruppe um Pater Domanski Gabrielas bescheidene Behausung und steigt in den japanischen Kleinbus, der unversehrt vor der Haustür steht.

Benedikt Vallendar