„Denn ich habe genauso gelitten wie sie!“

16. Okt 2007

Wie aus dem Flüchtling Huynh Cong Hanh ein Seelsorger wurde

Er war 19 Jahre alt und saß seit drei Tagen bis zum Bauch im Wasser im Bug eines völlig überladenen Fischkutters irgendwo vor der Küste Vietnams. In seiner Heimat sah er für sich keine Zukunft. Huynh Cong Hanh wollte frei sein, Huynh Cong Hanh wollte Priester werden – eine Unmöglichkeit im kommunistischen Vietnam und er wollte nicht in den Krieg gegen Kambodscha ziehen. „Dieser Krieg war Unrecht. Deshalb bin ich dem Aufruf der Regierung mich als Soldat zu registrieren, nicht gefolgt.“ Die Eltern hatten kein eigenes Geld, sondern liehen es sich, um ihrem Sohn einen Platz auf einem der Boote zu kaufen, die ihm und vielen anderen die heimliche Flucht ermöglichen sollte.

 

Die Rettung

„Ich hatte schon viele Monate im Geheimen gelebt, weil mein erster Fluchtversuch gescheitert war und nun saß ich mit all meinen Hoffnungen für eine bessere Zukunft im dunklen Bug des Bootes. Ich konnte mich nicht bewegen und bekam pro Tag lediglich zwei Löffel Wasser und ein Löffel Suppe. Ich weiß nicht, wie lange ich es noch ausgehalten hätte, wenn nicht am Anfang des vierten Tages ein niederländischer Frachter auf uns zugesteuert gekommen wäre.“ Der Frachter hatte das Flüchtlingsboot schon lange regungslos einige Meilen entfernt beobachtet, bevor es die 164 Flüchtlinge aufnahm. „Ich konnte mich nach drei Tagen Sitzen im Wasser kaum noch bewegen und war unendlich erleichtert als die Kunde vom niederländischen Frachter die Runde unter den Flüchtlingen machte,“ erzählt Huynh Cong Hanh „Ich sollte die Steigleiter am Schiff herausklettern, aber ich habe es nur mit Mühe geschafft. Mir tat alles weh.“ Warum das Schiff erst nach so langer Zeit des Abwartens zu dem Flüchtlingsboot kam, erfuhr er erst viel später: „Der Kapitän hatte mit der niederländischen Regierung verhandelt, ob er die Flüchtlinge aufnehmen durfte, denn das Land, unter dessen Flagge ein Schiff fuhr, das Flüchtlinge aufnahm, war auch für diese verantwortlich.“

 

Boatpeople

Bilder von diesen sogenannten „Boatpeople“, die dicht aneinandergedrängt, oftmals ausgehungert und sonnenverbrannt in kleinen Nussschalen über das Südchinesische Meer flüchteten, gingen 1975 zum ersten Mal um die Welt. Denn obwohl nach 20 Jahren Krieg zwischen Nord- und Südvietnam endlich Frieden herrschte, flohen viele Vietnamesen aus Angst vor kommunistischen Repressalien, Hungersnöten und wegen deutlicher Verschlechterung der Lebensbedingungen. Über Land gab es jedoch kaum Fluchtmöglichkeiten, da Vietnam ausschließlich von Nationen umgeben war, welche selbst in schweren Krisen steckte. So wüteten beispielsweise in Kambodscha die Roten Khmer und in China herrschte die Kulturrevolution. Es blieb also nur die Flucht über das Meer. Geschätzte 1,6 Millionen Vietnamesen versuchten in den siebziger und achziger Jahren des letzten Jahrhunderts per Boot ihr Land zu verlassen. Rund 250.000 von ihnen starben dabei. Sie ertranken, wurden von Piraten ermordet oder starben an Erschöpfung.

 

Tote Bäume in den Niederlanden

Ihr Weg führte Hanh und die anderen vietnamesischen Flüchtlinge, unter ihnen auch viele Frauen und Kinder, über ein Flüchtlingslager in Hongkong schließlich per Flugzeug nach Amsterdam. „Ich erreichte die Niederlande am 25. Oktober 1979 und mein erster Gedanke war: Oh Gott. Was ist das für ein Land? Nur tote Bäume und eine entsetzliche Stille,“ lacht Hanh heute. „Ich kannte ja keinen Herbst. Bei uns in den Tropen war es immer grün. Die Niederlande waren für mich ein völlig unbekanntes Land. Eigentlich assoziierte ich mit ihm nur Milch, Kühe und Fußball!“

Hanh aber fand schnell den Zugang zu den Menschen. „Ich wollte in den Niederlanden ein neues Zuhause für mich finden. Und nach 400 Unterrichtstunden in Niederländisch begann ich mich langsam wohlzufühlen, einfach deshalb, weil ich begann die Kultur zu verstehen.“ Sein Wunsch Priester zu werden war weiterhin präsent und so trat er in das Priesterseminar in Kerkrade an der deutsch-niederländischen Grenze ein. Exerzitien brachten ihn schließlich ins Klosterdorf Steyl (Venlo), Mutterhaus der Steyler Missionare, wo er das erste Mal in seinem Leben Deutsch singen hörte. „Deutsch war für mich das Chinesisch Europas. Es war so schwer auszusprechen.“

 

Erste Begegnung mit den Steyler Missionaren

Die Begegnung mit den Steyler Missionaren prägte den jungen Mann nachhaltig. „Ich wollte Missionar werden und so trat ich 1985 bei den Steyler Missionaren ein.“ Er studierte alte Sprachen und Theologie in der ordenseigenen Hochschule der Steyler Missionare in Sankt Augustin bei Bonn und wurde 1992 zum Priester geweiht. Und was er kaum für möglich gehalten hatte, wurde wahr: Seine Eltern waren bei seiner Priesterweihe dabei. „Ich hätte niemals gedacht, dass ich meine Eltern jemals wiedersehen würde, aber Anfang der 90er Jahre des letzten Jahrhunderts begann eine leichte Öffnung Vietnams und so wurde meinen Eltern erlaubt bei meiner Priesterweihe dabei zu sein.“ Seine Eltern blieben einige Monate in Deutschland. „Ich habe Ihnen vieles gezeigt. Alles war neu für sie und überwältigend, weil sie ja bis dahin nie aus Vietnam herausgekommen sind.“

 

Flüchtlingsarbeit

Für den 32jährigen Huynh Cong Hanh war schnell klar, in welchem Bereich er nach seiner Weihe arbeiten wollte: „Ich wollte unbedingt etwas mit Flüchtlingen machen. Ich habe am eigenen Leib erfahren, was es bedeutet, wenn man in dieser völlig neuen, ungewohnten, Angst machenden Situation auf Menschen trifft, die einem Halt geben und Wärme. Die einem das Gefühl vermitteln, dass man willkommen ist und die die Sorgen und Nöte verstehen, mit denen man in vielen Momenten zu kämpfen hat. Ich wollte Flüchtlingen das zurückgeben, was ich erfahren habe. Denn ich habe mit ihnen gelitten. Ich habe genau das durchlebt, was all die Menschen auf dieser Welt, die monatelange Fußmärsche durch karge Wüsten oder Irrfahrten in kleinen Nussschalen auf den gossen Ozeanen dieser Welt durchleiden. Und ich denke, dass ich sie genau da abholen kann, wo sie gerade stehen. Denn ich bin einer von ihnen!“

 

Vietnamesisches Sommerlager

Seit 1994 arbeitet Pater Hanh nun als Vetnamesenseelsorger im münsterländischen St. Arnold. Neben zahlreichen Taufen, Trauungen, Katechumenen-, Gruppenleiterkurse und verschiedenen Treffen mit alten und jungen Leuten hängt sein Herz vor allem an dem alljährlichen vietnamesischen Sommerlager, das er seit 1995 organisiert. Die Kinder sollen während des einwöchigen Lagers gemeinsam auf vietnamesische Traditionen zurückblicken. „1995 hatten wir 67 Kinder hier mit 34 Gruppenleitern. Seitdem ist das Sommerlager kontinuierlich gewachsen. In diesem Jahr waren es schon über 120 Kinder und fast 60 Betreuer.“ Sie singen vietnamesische Lieder, es werden Gottesdienste in vietnamesisch gehalten. Sie lernen den Umgang mit anderen Vietnamesen, vietnamesische Höflichkeit, Rituale und Riten, wodurch den Kindern ihre Wurzeln wieder vertraut gemacht werden. „Viele Kinder können kaum noch vietnamesisch sprechen, wenn sie hierher kommen,“ erzählt Pater Hanh. „Hier lernen sie es wieder spielend und das ist gut für sie.“ Auch Lena spricht, wie alle Kinder im Sommerlager, akzentfreies Deutsch. Hätte sie nicht ihre wunderhübschen Mandelaugen – kein Mensch würde sie für eine Vietnamesin halten. „Ich bin katholisch und hier aufgewachsen, aber ich würde mich immer mehr als Vietnamesin bezeichnen als als Deutsche.“ Zwischen den Stühlen sitzt sie deshalb aber nicht. „Ich bin eine vietnamesische Deutsche, das ist doch toll. Ich empfinde es als sehr bereichernd.“

Auch viele Eltern sind als Küchenhelfer dabei. So sind aus Flüchtlingen Menschen geworden, die in Deutschland eine neue Heimat gefunden haben. Ihre Kinder können sich eine Rückkehr nach Vietnam zumeist nicht vorstellen. So wie der 25jährige Quynh, der als Betreuer schon seit vielen Jahren beim Sommerlager dabei ist: „Ich könnte mir vorstellen, in Vietnam zu arbeiten, aber auf Grund des ganz anderen Gesellschaftssystems könnte ich dort nicht leben.“ Dennoch sind viele der Kinder schon oft in der Heimat ihrer Eltern zu Besuch gewesen: „Wenn man dort einkaufen geht, müssen wir sofort mehr bezahlen als alle anderen, weil die Menschen uns ansehen, dass wir aus dem Westen kommen,“ berichtet ein Junge. „Das nervt und gibt mir ein schlechtes Gefühl. Hier in Deutschland bin ich zu Hause.“

Auf dem Schulhof toben ein paar kleine Mädchen mit ihren Betreuerinnen, einige Jungs stehen am „Tischfußball“. Wenn die Emotionen hoch kochen wird auf Deutsch geschrien. „Es ist für uns viel leichter uns auf deutsch zu unterhalten,“ lacht ein 14jähriger aus Bremen. Die Kinder, die hier eine Woche ihrer Schulferien verbringen, kommen aus ganz Deutschland. „Ich habe Freunde in ganz Deutschland durch diese Sommerlager. Das ist toll!“ sagt Tuyen aus Frankfurt, der in diesem Jahr als Betreuer dabei ist. „Es gibt einige vietnamesische Sommerlager in Deutschland, aber das hier ist das Beste.“ Auf die Frage warum, gibt es nur erstaunte Blicke. „Das ist doch klar. Wegen Pater Hanh natürlich.“

 

28 Jahre nach seiner Flucht im dunklen Bug eines kleinen Fischerbootes gibt der ehemalige Flüchtling Hanh, den Kindern derer, die wie er gelitten haben, eine vietnamesische Heimat in Deutschland und viele fröhliche Kinderaugen zeigen: Die Mühen haben sich gelohnt!

 

Tamara Häußler-Eisenmann