Strickdecken für die Ärmsten

16. Sep 2010

Deutschland - Jedes Jahr verschickt die Steyler Mission Hunderte von Decken ins Ausland, die ehrenamtliche Helfer in mühevoller Handarbeit fertigen. Zwei dieser Helfer sind Gertrud Gessinger aus Trier und Agnes Mai aus St. Wendel.

"Es ist wie eine Sucht", sagt Gertrud Gessinger und lacht. "Man kann einfach nicht aufhören." Die beiden Stricknadeln in ihren Händen lässt sie dabei kunstvoll um die Wette laufen, durchsticht routiniert Masche um Masche. Durch das Fenster ihrer kleinen Wohnung im Trierer Dietrich-Bonhoeffer-Haus fällt warmer Sonnenschein. An den Wänden lächeln Enkel und Urenkel aus Bilderrahmen.  

Seit 1989 strickt Gertrud Gessinger Decken. Kaum ein Tag vergeht, an dem sie nicht zum Garn greift. "Pausen gibt's nicht", sagt sie. "Die kann ich mir nicht leisten." Auf die Frage, wie viele Decken sie in den vergangenen zwanzig Jahren gestrickt habe, zuckt sie gleichmütig mit den Achseln. "Nach der zweihundertsten Decke habe ich aufgehört zu zählen."  

Früher hat Gertrud Gessinger viel für ihre Kinder gestrickt, später für deren Nachwuchs. Inzwischen strickt sie ausschließlich für die Steyler Missionare. Schuld daran ist Agnes Mai aus St. Wendel. Sie ist heute zu Besuch, hat auf dem Sofa neben Gertrud Gessinger Platz genommen und hantiert genauso emsig mit ihrem Strickzeug. "Vor über 25 Jahren war ich mit dem Steyler Pater Franz Spanninger auf Reisen", erzählt die 80-Jährige. "Im Bus zeigte er unserer Reisegruppe einen Videofilm über ein Straßenkinderprojekt der Steyler. Da war zu sehen, wie die Kinder auf einfachen Pritschen schlafen mussten. Auf meine Frage, ob es denn keine Decken für die Kinder gebe, deutete Pater Spanninger lächelnd auf das Strickzeug in meiner Hand und sagte: "Die erste entsteht ja gerade". Seitdem stricke ich für die Mission."  

Agnes Mai suchte und fand Mitstreiter wie Gertrud Gessinger. Per Aushang in Wartezimmern und Gasthäusern suchen die "Strickdamen" Spender für Wollreste - die Resonanz ist so groß, dass alle zwei bis drei Wochen eine neue 1,60 Meter lange Decke fertig ist, die Gertrud Gessinger zum Schluss sorgfältig umhäkelt. Dem fertigen Maschenwerk sieht man die Resteverwertung nicht mehr an. Sind genug Decken vollendet, bringt sie Agnes Mai ins Missionshaus St. Wendel und gibt sie dort an der Pforte ab.  

"Mir macht diese Arbeit große Freude", meint Gertrud Gessinger. "Weil wir mit unseren Decken direkt helfen können." Selbst nachts hat sie ihr Strickzeug immer griffbereit. "Falls ich mal nicht schlafen kann." Agnes Mai nickt lächelnd. "Kälte ist für mich der Inbegriff alles Bösen", sagt sie und nimmt eine Masche wieder auf. "Ist doch toll, wenn wir mit unseren Decken etwas Wärme in die Welt bringen können." Beide Damen wollen stricken, so lange es ihre Gesundheit zulässt. "Wie viel Decken müssen wir angesichts der vielen Katastrophen noch stricken, die die Welt jedes Jahr in Atem halten?" fragt Gertrud Gessinger. "Dafür werden wir nicht alt genug." Entsprechend sind die Gebetsworte, die Agnes Mai jeden Abend vor dem Schlafengehen gen Himmel schickt: "Lieber Gott, denk dran, dass du mich noch nicht abberufen darfst. Ich habe noch Wolle."  

Ortswechsel in das knapp 200 Kilometer entfernte Sankt Augustin bei Bonn. In der Versandabteilung der Missionsprokur ist Mitarbeiter Willi Schmitz damit beschäftigt, einen Tabernakel und eine Mutter-Gottes-Statue versandfertig zu machen. Beide Gegenstände sollen zu einem Steyler Bruder nach China.
Kartons und Kisten, Säcke und Tüten stapeln sich in dem großen Raum auf der Rückseite des Prokurgebäudes. Beinahe täglich werden Sachspenden angeliefert, 400 Sendungen waren es allein im vergangenen Jahr. Zu ihnen zählen auch das wollene Hilfsgut von Gertrud Gessinger, Agnes Meier und vielen anderen fleißigen Helferinnen und Helfern. Allesamt landen die Decken zunächst auf einem großen Stapel im hinteren Teil der Versandabteilung.   

"Wenn wir dann eine Sendung fertig machen, benutzen wir die Decken, um die Kartons auszupolstern", erklärt Willi Schmitz und zeigt auf eine halbvolle Kiste, die den Frachtaufkleber "Rev. Sr. Dianah / Nkawkaw" trägt. Ausstattungsgegenstände für ein von Steyler Schwestern geführtes Hospital in Ghana sind darin sorgfältig übereinander gestapelt und in Decken eingewickelt.

Schon während ihrer Reise nach Übersee erweisen sich die Decken also als äußerst nützlich. "Die meisten von ihnen gehen dann gemeinsam mit anderen Hilfsgütern nach Afrika, dort insbesondere nach Ghana, Togo, Angola oder Kenia", sagt Schmitz. Der gelernte Schaufenstergestalter freut sich immer, wenn Decken-Nachschub in der Prokur eintrifft. "Davon kann man wirklich nie genug haben", sagt er. "Ich finde es schön, mit den Spendern in direkten Kontakt zu kommen. Denn sie tun mit ihrer Strickarbeit ein wirklich gutes Werk. Eine Decke ist ja an sich ein relativ simpler Gegenstand. Aber oft sind ja die einfachsten Dinge am besten."  

Hat sich in der Versandabteilung genug angesammelt, um den LKW der Prokur zu beladen, wird die gesamte Fracht ins holländische Burgh-Haamstede gebracht. "Von dort geht es mit einer Schiffsspedition weiter, die sich auf kirchliche Güter spezialisiert hat", erklärt Schmitz. Etwa vier Wochen dauert die Schiffsreise von den Niederlanden beispielsweise nach Ghana.  

Erneuter Ortswechsel, mehr als 5.000 Kilometer südlich. In Saboba im Norden Ghanas steigt Pater Matthias Helms aus seinem weißen Pickup. Der Steyler Missionar lebt und arbeitet seit 17 Jahren als Missionar in Ghana, seit Kurzem in der Diözese Yendi, einem der heißesten Flecken des Landes.

Egal, in welchen Teil des westafrikanischen Landes es ihn in den vergangenen 17 Jahren verschlagen hat: Die Decken aus dem heimischen Sankt Augustin waren immer schon vor ihm an Ort und Stelle. "Erst vor ein paar Tagen war ich in einem Dorf, um jemandem die Krankenkommunion zu bringen", erzählt der gebürtige Hildesheimer. "Und was sah ich als erstes, als ich in das Haus kam? Eine unserer Decken aus Deutschland, auf der es sich Kinder gemütlich gemacht hatten."  

Früher wurden die Decken häufig zur Pflege von Leprakranken verwendet, weshalb sie auch unter dem Namen "Lepradecken" bekannt wurden. Heute kommen die Decken meist in Krankenhäusern und Ambulanzen zum Einsatz, auf Betten, als Sichtschutz, als Kleidungsstücke. Begehrt sind die Decken aber auch für die heimische Nutzung. "Als ich noch das Alfons-Mertens-Centre in den Afram Plains geleitet habe, haben wir einmal gebrauchte Nähmaschinen aus Deutschland geliefert bekommen", erinnert sich Helms. "Diese Maschinen waren - wie das bei allen Hilfsgütern üblich ist - in Decken eingewickelt. Mitarbeiter, die mir beim Auspacken halfen, hatten sofort ein Auge auf die Decken geworfen. Auf ihr Bitten habe ich sie ihnen gerne überlassen."  

Weil sich in vielen Häusern und Hütten Ghanas oft nur harte Strohmatten finden, auf die sich die Familien nachts legen können, ist die Freude über eine weiche Decke immer groß. "Vor allem Kinder kuscheln sich gerne in die Decken aus Deutschland", sagt Helms. "Auch bei den Alten sind sie beliebt." Trotz der tropischen Temperaturen in Afrika werden die Decken darüber auch als Wärmespender geschätzt. "Im Winter sinken die Temperaturen auch in Ghana auf unter 20 Grad", sagt der Steyler Missionar. "Das mag für uns Europäer nicht kalt sein, aber die Ghanaer, die Temperaturen zwischen 30 und 40 Grad gewöhnt sind, haben ein völlig anderes Kälteempfinden. Gerade nachts frieren sie in diesen Zeiten - und sind selig, wenn sie eine schützende Decke bekommen."

Natürlich werden auch in ghanaischen Geschäften Decken verkauft, vor allem in der Hauptstadt Accra. "Aber viele Menschen können sich das nicht leisten", erklärt Pater Helms. "Für sie sind die geschenkten Decken ein Segen." Den Wohltätern aus Deutschland seien die Menschen aufrichtig dankbar, so der Steyler Missionar. "Denn eine simple Decke, die man in Europa an jeder Ecke kaufen kann, ist in Ghana ein heißbegehrtes Gut. Sie verhilft so manchem hier zu einem besseren, würdigeren Leben ."

Markus Frädrich