Die indische Kirche muss sich öffnen

04. Okt 2011

Jahrzehntelang war Raphael Cheenath Erzbischof von Cuttack-Bhubanes war im indischen Bundesstaat Orissa. Seine Europareise führte Cheenath in diesen Tagen auch in die Partnerstadt Werne, wo er sich mit Bürgermeister Lothar Christ über die aktuelle Situation des Sozialinstituts Seva Sedan in Rourkela austauschte.

Erzbischof Cheenath, seit Februar sind Sie im Ruhestand. Wie sieht Ihr neuer Alltag aus?

Ich bin inzwischen nach Bombay umgezogen. Dort wissen noch gar nicht so viele, dass ich da bin. Aber ich weiß, wenn sie es einmal wissen, finde ich keine Ruhe mehr (lacht). Denn Bombay ist unsere größte Diözese in Indien. 500.000 Katholiken leben in dieser 21-Millionen-Stadt, der Erzbischof von Bombay ist gleichzeitig Kardinal. Es gibt drei Weihbischöfe, denen ich gerne helfen werde, etwa dabei, Firmungen zu spenden. Die übrige Zeit werde ich damit verbringen, Dinge zu tun, zu denen ich bisher keine Zeit hatte.


Es sei Ihnen gegönnt, nach 37 Jahren als Bischof in drei Diözesen, am längsten in Cuttack-Bhubaneswar. Vermissen Sie das Bistum schon?

Mein Nachfolger, Bischof John Barwa, macht dort hervorragende Arbeit. Er hat seinen ganz eigenen Stil. Ich werde, wenn es um die zurückliegende Christenverfolgung in Orissa geht, manchmal noch als Berater hinzugezogen. Ansonsten vertrete ich den Standpunkt: Ich mische mich nicht in Dinge ein, für die jetzt ein anderer zuständig ist.


Eines Ihrer letzten Projekte als Erzbischof von Cuttack-Bhubaneswar war der Beginn eines Siedlungsprojektes für die verfolgten Christen…

Insgesamt wurden bei den Verfolgungen in Orissa 2007 und 2008 rund 5.000 Häuser in 293 Dörfern zerstört, daneben zahlreiche kirchliche Einrichtungen. Auch ein Jahr später mussten viele Christen immer noch in provisorischen Flüchtlingslagern leben, weil ihr gesamtes Hab und Gut bei den Ausschreitungen zerstört worden ist. Die Familien litten unter den klimatischen und sanitären Bedingungen in den überfüllten Zelten. Nicht immer waren die Lager bewacht, sodass die Bewohner jedem ausgeliefert waren, der sich ihnen gewaltbereit näherte. Mir und anderen war klar: Die Menschen brauchen schnell wieder ein Dach über dem Kopf. Deshalb warben wir gemeinsam mit anderen Glaubensgemeinschaften für ein Siedlungsprojekt, das bald Früchte trug. Im Dezember dieses Jahres werden rund 4.000 solide Steinhäuser für die Menschen errichtet sein.


Waren die beiden großen Christenverfolgungen die schwersten Tage Ihrer Amtszeit?

Eindeutig. Als uns Christen plötzlich die Ermordung des Hindu-Führers Swami Laxamananda Saraswati angehängt wurde, nachdem längst feststand, dass Maoisten die Tat verübt hatten, war ich fassungslos. Es war schlimm für mich zu erleben, wie all das zerstört wurde, was wir in den letzten 25 Jahren aufgebaut haben. Jeder Anruf mit der Hiobsbotschaft, dass wieder eine neue Siedlung brannte, wieder Menschen zu Tode gekommen sind, war ein neuer Schock für mich. Ich selbst konnte Kandhamal – das betroffene Gebiet – erst einen Monat nach Beginn der Krawalle besuchen, unter vollem Polizeischutz. Vorher war mein Flug dreimal annulliert worden, weil meine Reise als "zu gefährlich" eingestuft worden war.


Hat sich die Situation inzwischen völlig entschärft?

Offene Gewalt gibt es nicht mehr. Aber die Stigmatisierung von Christen bleibt, und die Regierung unternimmt kaum etwas dagegen. Auch nicht dagegen, dass viele Gewaltakte immer noch vertuscht werden. Priester aus Bubaneswar haben mir noch vor Kurzem erzählt, dass wieder drei christliche Gemeindeleiter zu Tode gekommen sind. Nach offiziellen Polizeiangaben sind sie ertrunken, aber es war offensichtlich, dass es kein Unfall war, sondern dass man die Männer erschlagen und dann ihre Leichen in den Fluss geworfen hatte.


Welches sind für Sie die künftigen Herausforderungen für die indische Kirche?
Die indische Kirche muss sich öffnen, und zwar gegenüber allen religiösen Gruppen. Jesus ist auch nicht nur für die Juden auf die Welt gekommen. Er kam für die ganze Menschheit. Er wurde zwar in der jüdischen Gemeinschaft geboren, aber sein Wirken war allumfassend. Ähnlich sollte die Haltung von uns Missionaren sein. Es ist wahr: Unsere Institutionen, Schulen, Einrichtungen sind offen für alle Religionen. Trotzdem hat es die Kirche in Indien immer noch nicht zufriedenstellend geschafft, in die Lebenswelt der normalen Leute vorzudringen.


Inwiefern?

Während meiner gesamten Amtszeit als Erzbischof habe ich zu den Priestern meines Bistums gesagt: Wenn ihr in ein Dorf geht, um dort mit christlichen Familien Gottesdienst zu feiern, zu singen und zu beten, dann vergesst nicht, dass dort auch noch 40, 50 Hindu-Familien wohnen. Ihr dürft nicht vergessen, auch mit ihnen Kontakt zu halten. Denn wenn ihr das nicht tut, geschieht Folgendes: Die nicht-christliche Kommunität wird argwöhnisch. Sie fragten sich: Warum kommt dieser Priester immer in unser Dorf? Was sagt er, was predigt er? Und dieses Klima der Unsicherheit öffnet Fundamentalisten Tür und Tor, Gerüchte über uns Christen zu verbreiten und die Leute damit gegen uns aufzubringen. Wohin das führen kann, haben wir bei den Christenverfolgungen in Orissa gesehen.


Sie fordern mehr Transparenz.

Richtig. In Europa haben Sie nicht so viele verschiedene Religionen wie wir, vielleicht ist diese Forderung deshalb schwer nachzuvollziehen. Bei uns in Indien ist es der Kirche als Licht der Welt und Salz der Erde bislang nicht immer gelungen, ihre Belange gegenüber anderen Glaubensgemeinschaften deutlich zu machen. Es geht dabei nicht unbedingt darum, Angehörige anderer Religionen zu bekehren. Es geht darum, mit ihnen in universeller Brüderlichkeit zusammen zu leben. Unser Wirken sollte Jesu Wirken entsprechen: Er zog durch die Gemeinden und Dörfer und ging dort zu allen Gruppen, denn er war für alle da. Ich wünsche mir für die indische Kirche entsprechend eine Abkehr von der Ghetto-Mentalität. Und eine Zuwendung zur Vielschichtigkeit aller Menschen.

 

Markus Frädrich