Durch Stürme und Krisen

22. Nov 2011

Am 28. November wird im Kongo wieder gewählt. Seit über 40 Jahren lebt und arbeitet der gebürtige Westfale Hugo Tewes als Steyler Missionar im Kongo und kennt das Land wie kaum ein anderer.

Als es dem Land am schlechtesten ging, baute er mit Hilfe der Christen vor Ort eine neue Hauptstadtpfarrei auf.

Ein Schlüssel klimpert, eine blaue Eisentür quietscht. Die Ruhe des Pfarrgeländes weicht ausgelassenem Schulhoflärm. Nur wenige Sekunden, und Pater Hugo Tewes ist umringt von Kindern. Weiß-blau sind die Oberteile ihrer Schuluniformen, hier und da bestickt mit kleinen Aufnähern. „E.P. Lemba Nord, Notre Dame d’Afrique“. Grundschule Lemba Nord der Gemeinde Notre Dame d’Afrique.

Der Missionar mit dem braunen Hut und dem blauen Polohemd bahnt sich seinen Weg durch die spielenden Kinder, vorbei am Direktorenzimmer und diversen Klassenräumen. Hugo Tewes winkt Eltern und Lehrern zu, tätschelt Schülerköpfe. „Rund 1.500 Kinder gehen auf unsere beiden Grundschulen, nebenan gibt es noch ein Gymnasium für über 1.000 Schüler“, erklärt der 70-Jährige. „Gerade ist der Unterricht zu Ende gegangen.“ Auch im benachbarten Kindergarten herrscht gerade Aufbruchsstimmung. Eltern sammeln ihre Schützlinge in der Fische-, Antilopen-, Küken- oder Schmetterlingsgruppe ein. „Hier werden noch einmal 300 Kinder betreut“, sagt Hugo Tewes. Im Hintergrund toben fünf Jungs und zwei Mädchen ausgelassen auf einer Schaukel.

 

Kaum zu glauben, dass dieser belebte Ort im Stadtteil Lemba der Millionenstadt Kinshasa vor 20 Jahren noch komplett anders aussah. „Als wir hier ankamen, gab es nur die Grundschulgebäude, und die befanden sich in einem miserablen Zustand“, erinnert sich Hugo Tewes. „Kurz zuvor hatte ein Sturm das komplette Dach von sechs Klassenräumen abgedeckt. Außerdem: Als wir 1991 mit dem Bau der Kirche begannen, war gerade die erste Plünderungswelle über Kinshasa gegangen. Es war schon sehr gewagt, gerade in diesem Moment der Geschichte etwas Neues anzufangen. Aber wir dachten uns: Der Kongo hat schon so viele Stürme und Krisen erlebt. Er wird auch diese überleben.“


Dass sich die Gemeinde allen Widrigkeiten zum Trotz über den Zeitraum von zwei Jahrzehnten zu einer lebendigen Gemeinschaft, zu einem florierenden Treffpunkt für Alt und Jung entwickelt hat, ist nicht zuletzt Hugo Tewes‘ Verdienst. Hugo Tewes, dessen Ruhe und Geradlinigkeit den Bewohnern von Lemba imponiert haben muss. Hugo Tewes, der zugleich nicht anders kann, als seinen Verdienst mit einem bescheidenen Schulterzucken herunterzuspielen. „Ich bin ja nicht nur Deutscher, sondern auch noch Westfale“, räumt er immerhin mit einem Lächeln ein. „Man sagt mir eine gewisse Sturköpfigkeit nach, und die will ich nicht verleugnen. Ich bin zum Beispiel dafür bekannt, dass die Gottesdienste bei uns – im Gegensatz zu vielen anderen Gemeinden – pünktlich beginnen und einen überschaubaren Zeitrahmen haben. Viele Leute kommen gerne zu uns die Kirche, weil sie das schätzen.“

Konsequenz beflügelt – auch wenn es um andere Projekte geht. Einen dreijährigen Lesezyklus zur Bibel etwa, zu dem sich rund 200 Gemeindemitglieder vor dem Jahr 2000 anstecken ließen. „Drei Jahre lang haben wir jeden Morgen nach der Messe zwanzig Minuten angehängt, in denen ein Kapitel der Bibel gelesen wurde“, erzählt Tewes. „Ich persönlich hatte mir vorgenommen, zu jedem der Kapitel eine Einleitung zu verfassen. Ich habe durchgehalten und auch die Gemeinde hat durchgehalten. Wir haben die gesamte Bibel miteinander durchgelesen.“

Ein kurzer Spaziergang führt Hugo Tewes durch das Viertel der Gemeinde. Die staubige Straße wird von einem schmutzigen Abwasserkanal begrenzt, rechts und links sitzen Händler unter bunten Sonnenschirmen und bieten Früchte, Schmuck oder Zeitschriften feil. Männer mit Handkarren heben die Hand zum Gruß, Frauen in bunten Gewändern passieren mit übervollen Warenkörben auf ihrem Kopf. Über den Häusern thront in der Ferne das brach liegende Monument am Boulevard Lumumba.

 

Eine längst vertraute Szenerie für den Steyler Missionar. Seit über 40 Jahren lebt und arbeitet er in der Demokratischen Republik Kongo – zunächst als klassischer „Buschmissionar“ in Kimbao in der Diözese Kenge, gut 400 Kilometer von der Hauptstadt entfernt. Knapp 100 Siedlungen gehörten dort zu seinem Wirkungsbereich, lang und beschwerlich waren die Jeep-Touren und Märsche in die entlegenen Außenstationen.

Dennoch erinnert sich Tewes gerne an seine Anfangszeit zurück. „Das Engagement der Leute hat mich tief beeindruckt“, sagt er. „Wenn ich in ein Dorf kam, um mit ihnen die heilige Messe zu feiern, ließen die Dorfbewohner auf den Feldern alles stehen und liegen, selbst an einem normalen Wochentag.“ Beeindruckt ist er bis heute auch davon, wie beharrlich die Christen in Kimbao dem harten Wind trotzten, der ihnen in der Diktatur Joseph-Désiré Mobutus entgegenwehte. „Die schlimmsten Jahre waren wohl von 1972 bis 1976“, erinnert sich Tewes. „Wir durften die Menschen nicht mehr auf christliche Namen taufen, sondern nur noch auf einheimische, traditionelle. Es wurde ein Versammlungsverbot erlassen, der Religionsunterricht wurde aus den Schulen verbannt, die Schulen hat man verstaatlicht.“ Trotz allem seien die Menschen im Kongo dem Christentum treu geblieben. „Der Gegenwind kam von oben, nicht von unten“, sagt er.

 

1982 wurde Tewes nach Bandundu versetzt, wo er bis 1987 in der Provinzverwaltung des Steyler Ordens arbeitete und an der Entstehung des Verlags „Verbum Bible“ mitwirkte. Nach zwei kürzeren Einsätzen in der Diözese Kikwit ging es dann 1990 in die Hauptstadt. „Im Landesinneren habe ich eigentlich überhaupt keine Angst gehabt“, sagt Hugo Tewes. „Aber als ich dann nach Kinshasa gehen sollte, wurde ich schon ein wenig unruhig. Man hörte von oppositionellen Strömungen und Demonstrationen. Ganz geheuer war mir mein neuer Wirkungsort nicht. Aber mir ist nie etwas passiert.“

 

Wieder holt der Missionar einen Schlüssel hervor. Durch ein Tor geht es ins „Centre Pastoral Biblique“ der Steyler, das von Hugo Tewes und einigen seiner Mitbrüdern gleichzeitig als Wohnhaus genutzt wird. Großes Hallo am Mittagstisch, die Gemeinschaft ist – ordenstypisch – international, das Essen kein Vergleich zu dem, womit Pater Tewes in seinen Anfangsjahren im Kongo oft auskommen musste. „Als ich nach meinen ersten drei Missionsjahren in den Heimaturlaub flog, haben mich mein Vater und meine Brüder am Flughafen in Brüssel abgeholt“, erzählt Tewes. „Als mein Vater sah, wie abgemagert ich war, sagte er in bestem westfälischem Plattdeutsch: Der Junge geht mir nicht mehr zurück nach Afrika!“

Überhaupt: Die Eltern. Einfach Landwirte aus Altenheerse mit zwölf Hektar Grund, die erst einmal kräftig schlucken mussten, als ihnen ihr zwölfjähriger Sohn mitteilte, er wolle ins benachbarte Missionshaus der Steyler gehen, um Priester und Missionar zu werden. Es kostete Hugo Tewes einige Überzeugungsarbeit, bis sie schließlich einwilligten, das Schulgeld für das zwölf Kilometer entfernte Internat in Bad Driburg zu bezahlen. Jenen Ort, wo er als Messdiener einen Film über die Missionsarbeit des Steyler Ordens gesehen hatte, der mit der Frage schloss: „Willst nicht auch Du Missionar werden?“

 

Hugo Tewes wollte sofort – und hat es bis heute nicht bereut. Trotz der abenteuerlichen Zeit im kongolesischen Busch, wo er in Strohhütten nächtigen musste, in denen es vor Ungeziefer wimmelte und deren Dächer undicht waren. In entlegenen Dörfern ohne Strom und fließendem Wasser, zu denen er sich per Jeep über gefährliche Schlaglochpisten durchkämpfen musste. „Leider bin ich technisch nicht sonderlich bewandert, sodass ich komplett aufgeschmissen war, wenn ich mal mitten im Busch eine Panne hatte“, sagt er. „Aber Gott sei Dank habe ich es während meiner Zeit in Kimbao, in der ich jährlich 10.000 Kilometer zurückgelegt habe, immer zurück ins Hauptquartier geschafft. Nur einmal war der Schaden im Getriebe so schwer, dass mich ein Mitbruder über eine Strecke von 55 Kilometern abschleppen musste.“

 

Unzählig sind die Momente, die Tewes aufs Äußerste forderten. Momente auch persönlicher Natur. Etwa als er Ende April 1982 mitten im Busch die Nachricht bekam, dass es seiner Mutter sehr schlecht gehe. Von Bagata aus fuhr er 500 Kilometer aus nach Kinshasa, rief zu Hause an. Nein, sagte seine Mutter am anderen Ende der Leitung, sie wolle nicht, dass er nach Hause komme. „Sie hatte Krebs und es war nicht klar, wie viel Zeit ihr noch bleiben würde“, erinnert sich Tewes. „Sie hatte Angst, dass ich in Deutschland Monate lang praktisch auf ihren Tod warten würde. Also bin ich nicht gefahren.“ Ende Mai starb seine Mutter. „Ich feierte mit meinen Mitbrüdern in Bagata eine Messe für sie“, sagt er. „Zu ihrer Beerdigung hätte ich es nicht rechtzeitig geschafft.“

 

Gut 20 Jahre später verstarb auch Tewes‘ Vater, ohne dass sich sein Sohn noch einmal von ihm hätte verabschieden können. „Leicht ist das natürlich nicht“, räumt Tewes ein. „Ich war mit meinen Eltern sehr verbunden. Aber es gehört zu den Dingen, die man in Kauf nimmt, wenn man als Missionar in die weite Welt geht.“ Die Teller im Speiseraum haben sich längst geleert, die ersten Mitbrüder haben sich zur Mittagspause verabschiedet. Auch Hugo Tewes zieht sich zurück. Die Predigt für den kommenden Tag will noch vorbereitet werden.

 

Um 6.30 Uhr am anderen Morgen: Schon der erste der drei Sonntagsgottesdienste ist völlig überfüllt. Die Kirche platzt aus allen Nähten, als Hugo Tewes, sein Kaplan Silvester Wydra und die Messdiener durch den Mittelgang schreiten. Ein Frauenchor in bunten Gewändern animiert die Gemeinde zum Mitsingen und Mitklatschen, über den Köpfen der Gläubigen sorgen Ventilatoren für ein wenig Erfrischung. Tewes begrüßt die Gemeinde auf Lingála, die gesamte Messe ist in der kongolesischen Nationalsprache gehalten. Ein Kuriosum sind freiwillige Gemeindehelfer, die während der Predigt darauf achten, dass kein Gemeindemitglied einschläft.

Das fröhliche Spektakel endet mit einer feierlichen Kollekte für ein Paar, das vor Kurzem geheiratet hat. Einmal mehr „tanzt“ die Gemeinde zum Klingelbeutel. „Es ist unglaublich, wie großzügig die Leute hier trotz ihrer Armut sind“, sagt Pater Tewes im Anschluss an den Gottesdienst. „Bei einer Kollekte am Missio-Sonntag in einer deutschen Gemeinde sind für meine Arbeit gerade mal 17 Euro zusammengekommen. Hier spenden die Leute jeden Sonntag bis zu 300, am ersten Sonntag im Monat bis zu 1.000 Euro. Hier finden sich regelmäßig mehrere hundert Euro in der Sonntagskollekte. Es gibt Leute, die den Zehnten geben, obwohl sie beinahe nichts haben.“

 

Genau das ist es, was Hugo Tewes seit Jahrzehnten im Kongo hält, in einem Land, in dem Korruption und Chaos regieren, in einer Gemeinde, in der beinahe täglich für einige Stunden der Strom ausfällt: Die ungemeine Lebensfreude und Selbstlosigkeit der Menschen. „Die Leute sitzen nicht passiv in den Bänken, sondern nehmen aktiv am Gemeindeleben teil“, sagt Tewes und deutet auf ein Team von Gemeindehelfern, die sich auf den Weg zum nächsten Gottesdienst gemacht haben. Für eine Gruppe von taubstummen Kirchenbesuchern werden sie die Liturgie gleich in Gebärdensprache übersetzen. „Wir beziehen die Laien mit ein, geben ihnen Verantwortung – und haben dadurch Besucherzahlen, von denen man in Deutschland nur träumen kann“, sagt Tewes. „Am vergangenen Gründonnerstag und am Karfreitag war die Kirche zum Beispiel mit gut 1.000 Gläubigen übervoll, einige hundert Menschen mussten sogar draußen vor der Kirche sitzen bleiben", sagt Tewes „Die Liturgie zur Osternacht haben wir mit 19 Erwachsenen- und Kindertaufen und einer Hochzeit verbunden, knapp drei Stunden hat alles gedauert.“

 

Nicht, dass in der Neun-Millionen-Metropole Kinshasa alles rosig und die Zukunft sorgenfrei wäre. „Auch wir spüren den Priestermangel“, sagt Tewes. „Wenn sich die Bevölkerungszahl wie berechnet innerhalb der nächsten 15 Jahre verdoppelt, wird es viel zu wenig Seelsorger geben. Wir werden der Situation nur gerecht, wenn wir offen für neue Wege sind.“ Seit Jahren fordert Hugo Tewes, dass verheiratete Männer, die ein überzeugtes christliches Leben nach den Grundsätzen des katholischen Glaubens führen, zum Priesteramt zugelassen werden. „Für mich ist das eine unumgängliche Forderung“, sagt er. „Nur so können wir langfristig die Seelsorge in den Pfarreien sicherstellen, ob in Deutschland oder im Kongo. Die Kirche muss den Mut haben, sich von alten Traditionen zu trennen, wenn diese für eine geregelte Seelsorge ein Hindernis werden.“ Erfreut hat Tewes festgestellt, dass diese Forderung inzwischen auch von einer Reihe deutscher Bischöfe und Politiker gestellt wird.

 

Tewes setzt zum Sonntagsspaziergang durch die staubigen Straßen seiner Gemeinde an. So lange es ihm gesundheitlich möglich sei, wolle er als Missionar im Einsatz bleiben. „Wenn es so weit kommt, dass ich für meine Mitbrüder hier zur Last werde, ziehe ich es vor, nach Deutschland zurückzugehen. Denn in Europa hat man ja doch andere Möglichkeiten, Alte und Kranke zu behandeln.“ Pläne fürs Alter? „Ich bin Mitglied des Steyler Ordens und stelle mich ihm weiterhin zur Verfügung“, sagt Tewes. „Ich habe mich an das gebunden, was Orden und Gemeinwohl von mir verlangen. Ich bin mit meinen Möglichkeiten einigermaßen begrenzt und hoffe nicht, dass man mir etwas aufbürdet, wofür ich nicht geeignet bin.“ Sagt ein trockener Westfale, dessen Meisterstück im dunkelsten Kapitel des Kongo entstanden ist.

 

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Markus Frädrich