„Die Kinder sollen auf eigenen Füßen stehen können“

01. Dez 2011

Pater Hugo Scheer, der seit 30 Jahren in Vitória, der Hauptstadt des Bundesstaates Espírito Santo im Nordosten Brasiliens, lebt und wirkt, berichtet von seinem Engagement für Aidskranke vor Ort.

Pater Scheer, in Brasilien gibt es extreme soziale und wirtschaftliche Unterschiede. Die Schere zwischen Arm und Reich ist weit geöffnet. Wie ist die Situation in Vitória?
Das Bundesland Espírito Santo, in dem ich arbeite, hat etwa 3,5 Millionen Einwohner. Im Großraum von Vitória leben etwa 1,3 Millionen Menschen. Die wirtschaftlichen und sozialen Unterschiede hier sind sehr groß: 229.000 Familien leben unterhalb der Armutsgrenze. Die Armut ist in den vergangenen Jahren trotz des wirtschaftlichen Booms, dem wir vor allem dem Handel mit Erdöl verdanken, nur um ein Prozent gesunken.

 

Wie verbreitet ist die Immunschwächekrankheit Aids in der Region, in der Sie arbeiten?
Zwischen 1980 und 2008 wurden in unserer Region 6271 Fälle registriert. Zwischen 1985 und 2010 sind 2020 Menschen an Aids gestorben. Auf 100.000 Einwohner kommen 6,2 registrierte HIV-Fälle. Heute geht man davon aus, dass in Espírito Santo 17.000 Menschen leben, die HIV positiv sind – die wenigsten offiziell. Die Dunkelziffer ist hoch.

 

Wie werden Aidskranke von der Gesellschaft behandelt?
Die gesellschaftliche Akzeptanz von Aidskranken ist gestiegen. Das hat sicherlich damit zu tun, dass es inzwischen Arzneimittel gibt, die von der Regierung kostenlos verteilt werden. Damit ist aber auch die Vorsicht gesunken. Die Menschen schützen sich weniger vor Aids, weil die Krankheit als behandelbar gilt.

 

Wie versuchen Sie, den Aidskranken von Vitória und Umgebung zu helfen?
Wir kümmern uns besonders um Kinder und Jugendliche und ihre Familien. Wir engagieren uns stark in der Prävention, informieren über die Risiken von Aids und erklären, wie man sich schützen kann. Wir besuchen Familien, deren Angehörige von Aids betroffen sind, und begleiten sie zum Arzt oder ins Krankenhaus. Wir verteilen Lebensmittel, Spielzeug und Kleidung. Uns liegt eine umfassende pädagogische und spirituelle Betreuung am Herzen.

 

Zu ihrem Hilfsprogramm gehört es auch, dass Sie an die Familien Uhren verteilen. Was hat es damit auf sich?
Das mutet für Europäer vielleicht befremdlich an. Aber hier in Espírito Santo leben viele Menschen in so bescheidenen Verhältnissen, dass sie sich keine Uhren leisten können. Es ist aber wichtig, dass die Aidskranken ihre Medikamente pünktlich einnehmen. Also verteilen wir Uhren und machen ihnen klar, dass es wichtig ist, genaue Zeiten einzuhalten.

 

Die Betreuung leisten Sie direkt vor Ort in den Familien?
Teilweise. Insgesamt betreuen wir 76 Familien, in denen 79 Kinder leben. Diese Familien besuchen wir regelmäßig, vier von ihnen pro Woche. Aber wir engagieren uns auch für Kinder, die keinen Familienanschluss haben. Für sie haben wir vor einigen Jahren die so genannte „Vila de Nazaré“ ins Leben gerufen. Dort leben zwölf Jungen und fünf Mädchen zwischen zwei Monaten und 17 Jahren. In Vitória betreuen wir noch einmal fünf Mädchen zwischen 3 und 12 Jahren.

 

Wie entwickelt sich die Vila?
Sehr gut. Das letzte Haus konnten wir vor Kurzem, am 2. Oktober, einweihen, dank einer großzügigen Spende unseres Freundes Gerd Epe. Aktuell haben zwei „Missionare auf Zeit“ aus der Erzdiözese Paderborn ihre Arbeit in der Vila begonnen. Sie bleiben für gut ein Jahr bei uns.

 

Wo liegt der Schwerpunkt in Ihrem aktuellen Engagement für die jungen Bewohner der Vila Nazaré?
Als wir vor einigen Jahren begannen, uns insbesondere für aidskranke Kinder zu engagieren, lag die Lebenserwartung der Kinder bei sieben Jahren. Irgendwann lag sie bei zwölf. Inzwischen können HIV-Infizierte in eine hoffnungsvollere Zukunft blicken – nicht nur wegen der besseren medizinischen Versorgung. Nach Meinung der Ärzte hat auch die geistige und geistliche, familiäre und geschwisterliche Umgebung bei uns den Kindern geholfen, ihre Immunität zu steigern. Wir engagieren uns deshalb heute mehr und mehr dafür, die Kinder und Jugendlichen auf ein eigenständiges Leben vorzubereiten. Wir möchten ihnen Unabhängigkeit und Selbstständigkeit vermitteln und sie mit gesunden Kindern aus der Nachbarschaft zusammenbringen. In einer Lehrwerkstatt und einer kleinen Multifunktionshalle wollen wir den Jugendlichen Koch-, Näh- und Malkurse anbieten, ebenso Grundwissen in Sachen Mechanik und Elektrik vermitteln. Damit sie irgendwann auf eigenen Füßen stehen und – unabhängig von ihrer Erkrankung – ein normales Leben führen können.

 

Markus Frädrich