Allerheiligen (H)

Besinnung

Die Seligpreisungen – Vertröstung oder erfahrbare Zusage? Meditative Gedanken zu Mt 5,1-12

Meditative Gedanken zu Mt 5,1-12

Der Text ist uns nur allzu geläufig: oft und oft gelesen, gehört, gesungen, paränetisch überstrapaziert. 

Ob wir noch etwas spüren von seiner ungeheuerlichen Provokation? 

Mit der realen Welt, wie wir sie täglich erleben, decken sich die Seligpreisungen auf jeden Fall nicht. 



In unserer Welt werden die Armen nicht seliggepriesen, sondern verachtet und vergessen.
Die Trauernden werden nicht glücklich geschätzt, sondern gemieden und ausgeschlossen.
Den Gewaltlosen geschieht nicht wohl, sondern sie werden an die Wand gedrückt.
Die nach Gerechtigkeit hungern und dürsten, haben keine Aussicht auf die Erfüllung ihrer Sehnsucht, denn der Ober sticht den Unter, und Macht und Geld triumphieren über das Recht.
Die Barmherzigen werden leer ausgehen, denn Undank ist der Welten Lohn, und jeder ist sich selbst der Nächste.
Die reinen, lauteren Herzens sind, haben bestimmt nichts zu lachen; sie werden belächelt und für dumm verkauft.
Die sich für den Frieden einsetzen, haben keine Chance, setzen sie sich doch meist zwischen alle Stühle.
Und für die Verfolgten um der Gerechtigkeit willen gibt es keinen Grund zu Jubel und Freude, denn sie werden im Stich gelassen und verraten, werden sinnlos aufgerieben von der Übermacht der Ungerechtigkeit. 



So läuft’s bei uns, so läuft’s bei andern, in West und Ost, in Staat und Kirche, in Diktaturen wie in Demokratien. Das ist das Gesetz dieser Welt.
Und Jesus stellt dieses Gesetz einfach auf den Kopf
Mit den – unsere Denkgewohnheiten sprengenden – Makarismen beginnt bei Matthäus die Bergpredigt (bei Lukas die Feldrede).
Am Anfang dieser „Magna Charta“ des Gottesreiches stehen also nicht Forderungen, sondern Zusagen, nicht Imperative, sondern Affirmationen:
Nicht: Ihr sollt das Salz der Erde sein, das Licht der Welt, die Stadt auf dem Berg (Mt 5,13 f),
sondern: Ihr seid es.
Nicht: Wer alle Gebote befolgt, der wird selig werden
sondern: Selig seid ihr…
Erst wer durch diese Zusicherung ein neuer Mensch geworden ist, wer sich von Gott bejaht und angenommen weiß, der kann auch als neuer Mensch handeln.


Wo gibt es das sonst in unserer Welt?
Da heißt es doch knallhart:
Erst die Leistung – dann der Lohn.
Erst die Bürgschaft – dann der Kredit.
Erst das Wohlverhalten – dann die Zuwendung.
Erst der Erfolg – dann die Anerkennung.
Erst die Wiedergutmachung – dann die Vergebung.
So geht es uns. So geht es andern – von Kindheit an.
So machen wir’s. So macht man’s mit uns.
Es hat sich eingespielt. Wir haben uns daran gewöhnt:
Der Imperativ als Vorbedingung für den Indikativ.

Doch Jesus stellt diese Reihenfolge auf den Kopf.

Wem aber gelten seine Zurufe?
Welches Wohl hat er den nach Hoffnung hungernden Menschen als Geschenk Gottes versprochen?
Was sind die Seligpreisungen für uns – hier und heute?
Eine schwärmerische Utopie, die die harten Konturen der Gegenwart mildert?
Revolutionärer Zündstoff für Umstürzler aller Zeiten und politischen Schattierungen?
Nicht wörtlich zu nehmende, nur für den inneren Bereich geltende esoterische Weisheiten?
Die Verheißung des gerechten Ausgleichs im Jenseits – so die einen; billige Vertröstung, Opium fürs Volk – so die Gegenseite?
Ein Plädoyer Jesu für die Menschen auf der Schattenseite des Daseins, für die Zu-kurz-Gekommenen, für die Bedrängten und Bedrückten seinerzeit?

Vielleicht lassen sich die Seligpreisungen gar nicht auf einen Nenner bringen.
Vielleicht wollen sie geradezu herausfordern zu ganz verschiedenen Interpretationen und damit zur aktuellen Auseinandersetzung.

Sind diese Sätze utopisch?
- Ja, aber dennoch auf reale Veränderung ausgerichtet! Revolutionär?
- Ja, aber radikaler! Es geht um eine grundlegend andere Weltsicht.
Eschatologisch?
- Ja, aber die Zukunft ist schon angebrochen. Spirituell?
- Ja, aber keine Innerlichkeit, die privat und verborgen bleibt, sondern eine innere Haltung, die sich in der Praxis auswirkt – auch im gesellschaftlichen Zusammenleben, auch in der Politik.

Vielleicht aber meinen sie noch viel mehr als all diese Auslegungen. Sie sind an jeden von uns gerichtet, ganz konkret.

Vielleicht will Jesus uns in den Seligpreisungen sagen: Ihr denkt immer noch in den Vorstellungen und Gesetzmäßigkeiten der alten Welt. Seht ihr nicht, wie diese alte Welt schon in den Fugen kracht und eine neue anfängt?
Das Reich Gottes ist so nahe herbeigekommen, dass ihr es mit euren Augen sehen, mit euren Ohren hören, mit euren Händen greifen könnt (1Joh 1). Vielleicht heute noch als Senfkorn …, aber morgen …

Wohl denen, die vor Gott arm sind, denn ihnen gehört das Himmelreich!
Seht ihr es nicht? Schon sind sie reich beschenkt worden, die Armen, die nichts vorzuweisen, nichts aufzurechnen, nichts einzufordern haben.
Die Armen, die ihre Hände nicht um ihres Besitzes willen und ihre Herzen nicht um eines Systems willen verkrampfen,
Menschen, die nicht festgelegt, sondern offen sind für überraschende Ideen, für ungeahnte Impulse, für unerwartete Begegnungen, für das unverdiente Geschenk des Reiches Gottes.

Wohl denen, die trauern, denn sie werden getröstet werden! Spürt ihr es nicht?
Die nicht verdrängte Trauer ist wie Wasser auf dürres Land.
Geweinte Tränen lassen erstarrten Schmerz in Fluss kommen.
lösen die beklemmende, lähmende Angst,
öffnen die Augen für fremdes Leid.

Wohl denen, die keine Gewalt anwenden, denn sie werden das Land erben!
Schon hat einer, der sich nicht zur Gewalt verfuhren ließ, der auf sein Recht zur Vergeltung verzichtet hat,
da und dort den Kreislauf von Schlag und Gegenschlag durchbrochen und also ein Stück verheißenen Lands gewonnen.

Wohl denen, die hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit, denn sie werden satt werden!
Schon mancher hat den Sinn s seines Lebens sattsam erfahren, der sich nicht abgefunden hat mit den landesüblichen Ungerechtigkeiten,
der mit seinem Schrei nach Gerechtigkeit zum Sand im Getriebe ward.

Wohl denen, die barmherzig sind, denn sie werden Erbarmen finden!
Schon jetzt und hier können Menschen, die andere in ihrem Anderssein annehmen und ihnen Leben ermöglichen, sich selbst von Gott angenommen wissen und darum sich selbst annehmen – trotz ihrer Grenzen – trotz ihrer Schwächen – trotz ihrer Schuld.

Wohl denen, die ein reines Herz haben, denn sie werden Gott schauen!

Schon mancher sieht Spuren göttlichen Lebens in sich, im andern, in der Welt, manch einer, der lauter ist im Denken, Fühlen und Reden, der sein Fähnchen nicht nach dem Winde hängt, der keinem nach dem Mund redet und mit sich selbst im Einklang ist.

Wohl denen, die Frieden stiften, denn sie werden Söhne Gottes genannt werden!
Hört ihr es nicht?
Schon hier und jetzt wird der Mensch für die heillose Welt zum Gesandten, zum Sohn, zur Tochter Gottes, der zum Frieden anstiftet, Barrieren überspringt, erste Schritte zur anderen Seite wagt.

Wohl denen, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden, denn ihnen gehört das Himmelreich!
Schon mitten in der Verleumdung, Verdächtigung, Verfolgung hat manch einer den Himmel offen gesehen – wie Stefanus -, denn der Himmel tut sich immer auf. Wo Menschen an Christus erinnern.

Beatrix Moos - [Anmerkung der Redaktion: Die Bibelmeditation von Frau Moos wurde bereits veröffentlicht in: DIE ANREGUNG, Nettetal 1990, S. 20-23]