2. Adventssonntag – Besinnung

Besinnung

Lesung aus dem Buch Jesaja, Jes 11,1-10

Jes 11,1-10

Text 

11,1 Doch aus dem Baumstumpf Isais wächst ein Reis hervor, ein junger Trieb aus seinen Wurzeln bringt Frucht.

11,2 Der Geist des Herrn lässt sich nieder auf ihm: der Geist der Weisheit und der Einsicht, der Geist des Rates und der Stärke, der Geist der Erkenntnis und der Gottesfurcht.


11,3 [Er erfüllt ihn mit dem Geist der Gottesfurcht.] Er richtet nicht nach dem Augenschein und nicht nur nach dem Hörensagen entscheidet er,

11,4 sondern er richtet die Hilflosen gerecht und entscheidet für die Armen des Landes, wie es recht ist. Er schlägt den Gewalttätigen mit dem Stock seines Wortes und tötet den Schuldigen mit dem Hauch seines Mundes.

den Gewalttätigen: Text korr.

11,5 Gerechtigkeit ist der Gürtel um seine Hüften, Treue der Gürtel um seinen Leib.

11,6 Dann wohnt der Wolf beim Lamm, der Panther liegt beim Böcklein. Kalb und Löwe weiden zusammen, ein kleiner Knabe kann sie hüten.

11,7 Kuh und Bärin freunden sich an, ihre Jungen liegen beieinander. Der Löwe frisst Stroh wie das Rind.

freunden sich an: Text korr.

11,8 Der Säugling spielt vor dem Schlupfloch der Natter, das Kind streckt seine Hand in die Höhle der Schlange.

11,9 Man tut nichts Böses mehr und begeht kein Verbrechen auf meinem ganzen heiligen Berg; denn das Land ist erfüllt von der Erkenntnis des Herrn, so wie das Meer mit Wasser gefüllt ist.

11,10 An jenem Tag wird es der Spross aus der Wurzel Isais sein, der dasteht als Zeichen für die Nationen; die Völker suchen ihn auf; sein Wohnsitz ist prächtig.



Textbetrachtung 

Das Neuassyrische Reich, vom 9. Jh. v.Chr. bis zu seiner endgültigen Vernichtung im Jahr 609 v.Chr., gilt als das erste Großreich der Geschichte. Die Assyrer hatten 722 das Nordreich Israel erobert, seine Bevölkerung deportiert und durch Fremdvölker ausgetauscht. Jetzt bereiteten sie sich auf die Eroberung des Südreiches Juda vor. Jerusalem wurde belagert, aber nicht erobert, 2Kön 18. Von 626–539 v.Chr. errichteten die Chaldäer (Neubabylonier) ihr Großreich auf dem ehemaligen Gebiet des Neuassyrischen Reiches. In Juda erwartete man in jenen Zeiten grausamer Eroberungskriege immer sehnsüchtiger einen Messias-König, der sich nach der Weisung Jahwes um die Armen, und die in den Kriegswirren der damaligen Zeit Ausgeplünderten sorgen würde. Man „träumte“ davon, dass in seinem Reich wieder paradiesische Zustände herrschen würden.

11,1 Nicht mit David, sondern mit seinem Vater Isai wird einmal alles wieder ganz von vorne beginnen. Der junge Trieb aus jenem „Baumstumpf“ wird ein anderer David sein und dessen „Frucht“ ist das friedliche Miteinander von Menschen und Tieren.

11,2 Die „Ruach Jahwes“ wird sich auf den erwarteten Messiaskönig niederlassen und ihn leiten. Das hebräische Wort „Ruach“ bedeutet der Wind, der Atem (Gottes) oder der Geist Jahwes. Er wird den erträumten idealen König mit sechs Geistesgaben (in der christlichen Tradition sind es sieben Gaben) begeistern. Weisheit und Einsicht, Rat und Stärke, Erkenntnis und Ehrfurcht vor Gott werden dereinst dem Messias von Jahwe verliehen, damit er das paradiesische Friedensreich schaffen und regieren kann.

11,3 In dieser Weise begabt, richtet er – und das ist die Aufgabe eines Königs in Israel – nicht nach der äußeren Erscheinung eines Menschen oder was so über ihn getratscht wird.

11,4 Der Messias wird sich nicht durch vorgespielte Äußerlichkeiten täuschen lassen sondern die versteckte Hilflosigkeit eines Menschen erkennen und seiner verborgenen Not gerecht werden. Auch für die Armen im Lande wird er sorgen wie es Recht ist. Als messianischer König, der alles endgültig richten und richtigstellen wird, wird er „mit dem Stock seines Wortes“ vom Richterstuhl aus den Gewalttätigen verurteilen. Mit dem Richterspruch seines Mundes entscheidet er über Tod und Leben des Schuldigen.

11,5 Das hebräische Wort für „Gerechtigkeit“ steht für das gute Miteinander in einer partnerschaftlichen Beziehung. Vor allem, dass man sich einander in Liebe anzuvertrauen wagt und sich der Treue des Partners gewiss ist. Der „Gürtel“ ist ein uraltes Symbol der Kraft und Macht. So bedeutet er im vorliegenden Zusammenhang: Die Macht des ersehnten Messias besteht in seiner liebevollen Gerechtigkeit und seiner treuen Liebe: Gerechtigkeit ist der Gürtel um seine Hüften, Treue der Gürtel um seinen Leib.

11,6 Tiere, die normaler Weise einander fressen, werden in utopischen Bildern im friedlichen Miteinander beschrieben. So phantasierte man sich eine paradiesische Zukunft. Teilweise glaubte man auch, dass es am Anfang wirklich so gewesen sei. So friedlich würden auch den Menschen gefährliche Tiere miteinander gelebt haben, dass ein kleiner Knabe sie hätte hüten können.

11,7 Das utopische Bild vom Anfang und von der Zukunft wird noch weiter ausgemalt. Kuh und Bärin werden sich sogar einmal befreunden. Ihre Jungen liegen dann beieinander. Getoppt wird die erträumte Zukunft durch die einfach unglaubliche Verheißung, dass ein Löwe jemals wie ein Rind Stroh fressen wird.

11,8 Der ahnungslose Säugling wird im erträumten Paradies sorglos am Schlupfloch der Natter, deren Gift tödlich ist, spielen. Weil er die Gefahr nicht erkennt, wird er sogar seine Hand in die Höhle einer Schlange strecken. Nichts wird ihm passieren.

11,9 Das hebräische Wort „heilig“ ist kein moralischer Begriff, sondern ist in der Bedeutung von „besonders“ zu lesen. So gibt es viele Berge, aber der Berg Zion ist ein besonderer, ein heiliger Berg. Dort wird man zukünftig nichts Böses mehr tun und kein Verbrechen mehr aus Liebe zu Jahwe begehen. Die hebräische Sprache gebraucht das gleiche Wort für „erkennen“ und für „lieben“. Nur wenn ich jemanden liebe, werde ich ihn auch wirklich kennenlernen. Im ersehnten paradiesischen Reich des Friedens wird das Land von grenzenloser Liebe zu Jahwe, von der Erkenntnis des Herrn, ebenso erfüllt sein, wie das unendlich weite Meer voll Wasser sich jenseits des Horizontes noch weiterhin ausdehnt.

11,10 „An jenem Tag“ wenn der Spross aus der Wurzel Isais das in den damaligen Vernichtungskriegen so heiß ersehnte paradiesische Friedensreich errichten wird, dann wird er das Zeichen für die Nationen und Völker sein, zu ihm und seinem Wohnsitz auf dem Jerusalemer Burgberg, dem Zion, aufzubrechen.

P. Hieronymus Horn OSB