26. Sonntag im Jahreskreis (A)

Predigtimpuls

Zu Luthers Rechtfertigungslehre

1. Lesung: Ez 18,25-28
Zwischengesang: www.antwortpsalm.de
2. Lesung: Phil 2,1-11
Evangelium: Mt 21,28-32

Das persönliche Schicksal und das Ringen Martin Luthers führten zu der reformatorischen Erkenntnis, die in Verbindung mit politischen und sozialen Reformideen der Zeit gewaltige historische Umwälzungen auslöste. 

Furcht vor dem Gericht des strafenden Gottes war ein Grund für Martin Luther gewesen, ins Kloster einzutreten. Hier wollte er durch das Streben nach Vollkommenheit die Seligkeit erlangen. Während das Noviziat bei ihm im Ganzen friedlich und ruhig verlaufen zu sein scheint, geriet er während seiner Primizmesse, aber auch später häufig während des Gottesdienstes, in Schrecken vor dem gegenwärtigen Richter-Gott. Mit dieser Sorge stellt Luther für die damalige Zeit nichts Besonderes dar, sondern er präsentiert sich als ein Mensch des ausgehenden Mittelalters. Allerdings bewegen ihn die damaligen Fragen tiefer als andere. Es ging um die Sicherheit des Heils, wie kann ich meines Heils gewiss werden? 

Schwierig wurde dieses Problem für Luther vor allem deshalb, weil er seine eigene Sündhaftigkeit besonders tief erkannte und an ihr litt. Letztlich ging es um die Unerfüllbarkeit des ersten Gebotes. Wie kann es dem Menschen möglich sein, Gott wirklich aus ganzem Herzen über alles zu lieben. Weder die Buße, noch die häufige Beichte, noch die klösterliche Askese, noch das Gebet helfen dem Menschen in dieser Anfechtung, vor Gott nicht bestehen zu können. Auch anderen Theologen des Spätmittelalters war dies ein Problem. Die Frage nach der Heilssicherheit beschäftigte die Theologie allenthalben. 

Luthers älterer Mitbruder Johannes von Paltz, der bis 1505 im Wittenberger Kloster gelebt hat, sah auch das Problem, dass der Mensch den Anforderungen des Gebotes Gottes nicht genügen könne. Wie können dennoch möglichst viele Menschen zum Heil gelangen. Ihm war klar, dass man dies nicht durch eigene Werke machen könne, da der Mensch den Geboten ja nicht Genüge tun kann. Er gründet die Sicherheit des Heils auf die Institution Kirche. Dies ist die spätmittelalterliche „katholische“ Lösung, die bis heute weithin Gültigkeit zu haben scheint. Der Mensch, der nicht auf sich und seine Leistung vertraut, sondern auf die Gnadenmittel, die die Kirche in den Sakramenten austeilt, darf des Heils gewiss sein. Die kirchlichen Hilfsmittel, Sakramente, häufiger Messbesuch, Wallfahrten, Gebete und anderes werden letztlich zu Mitteln, die ich einsetze, um das eigene Heil zu sichern. Luther hat versucht, diesen Weg zu gehen, fand aber hierin keinen Frieden. 

In seinen Klosterjahren hatte er sich ehrlich bemüht, die Forderungen des Klosterlebens, das Fasten, die langen Gebete, die häufige Beichte, gewissenhaft einzuhalten. Er hatte aber die Erfahrung gemacht, dass trotz all seiner guten Bemühungen, trotz aller asketischen Übungen es dem Menschen unmöglich ist, von sich aus die Gebote, vor allem das erste Gebot, zu erfüllen, nämlich Gott aus ganzer Seele über alles zu lieben. Der Mensch kann die Werke des Gesetzes äußerlich tun, mit dem Herzen aber sehr weit weg von Gott sein. Doch wäre es allein die Liebe, die das Gesetz erfüllt. 

Die Gerechtigkeit vor Gott wurde für Luther zum Problem, weil ihm die geforderte Gottesliebe nicht erfüllbar schien. Nur die spontane, freiwillige und allzeitige Gottesliebe aber könnte das Hauptgebot und damit alle anderen Gebote erfüllen. Der Mensch kann sie nicht aus Werken zusammenbasteln, sie kann nur von Gott geschenkt werden. Die frohe Botschaft des Neuen Testamentes besteht nun darin, dass Gott diese Liebe dem Menschen schenkt, indem er nämlich die Liebe Jesu Christi den Menschen zurechnet. Diese Liebe ist identisch mit der Gerechtigkeit, durch die Gott uns gerechtfertigt. Sie ist identisch mit der von Luther geforderten Freiheit eines Christenmenschen. 

Am Beginn von Luthers reformatorischer Tätigkeit steht der sogenannte reformatorische Durchbruch. Das Datum ist bis heute in der Forschung umstritten. Er selbst beschreibt es ab 1532 mehrfach in den Tischreden, dann vor allem in der Vorrede zum ersten Band seiner gesammelten lateinischen Schriften seine grundsätzliche Erfahrung:

„Mit außerordentlicher Leidenschaft war ich davon besessen, Paulus im Brief an die Römer kennenzulernen. Nicht die Herzenskälte, sondern ein einziges Wort im ersten Kapitel war mir bisher dabei im Wege: ‚Die Gerechtigkeit Gottes wird darin (nämlich im Evangelium) offenbart‘. Ich hasste nämlich dieses Wort ‚Gerechtigkeit Gottes‘, weil ich durch den Brauch und die Gewohnheit aller Lehrer unterwiesen war, es philosophisch von der formalen oder aktiven Gerechtigkeit (wie sie es nennen) zu verstehen, nach welcher Gott gerecht ist und die Sünder und Ungerechten straft... Da aber erbarmte sich Gott meiner, Tag und Nacht war ich in tiefe Gedanken versunken, bis ich endlich den Zusammenhang der Worte beachtete ‚die Gerechtigkeit Gottes wird in ihm offenbart wie geschrieben steht: der Gerechte lebt aus dem Glauben‘.“ (WA 54, 185-186). 

Nach dieser Ausführung folgt dann eine entscheidende Stelle: „Da fing ich an, die Gerechtigkeit Gottes als eine solche zu verstehen, durch welche der Gerechte als durch Gottes Gabe lebt, nämlich aus dem Glauben. Ich fing an, zu begreifen, dass dies der Sinn sei: durch das Evangelium wird die Gerechtigkeit Gottes offenbart, nämlich die passive, durch welche uns der barmherzige Gott durch den Glauben rechtfertigt. Da fühlte ich mich wie ganz und gar neu geboren und durch offene Tore trat ich in das Paradies ein. Da zeigte mir die ganze Schrift ein völlig anderes Gesicht.“ 

Mit dieser Schilderung wollte Luther nicht deutlich machen, er habe hier ein exegetisches Problem, d.h. die Erklärung einer Schriftstelle nunmehr neu und richtig deuten können, vielmehr wurde ihm der Sinn des gesamten Evangeliums offenbar und er fand dadurch Erlösung aus seiner existentiellen Not. 

Luther erkannte, das Evangelium ist keine Anweisung für das rechte Tun, keine Anleitung für den Weg in den Himmel, sondern die Offenbarung der Güte und Barmherzigkeit Gottes: Gott nimmt uns umsonst und voraussetzungslos an. Wenn im Evangelium die Gerechtigkeit Gottes offenbart wird, wie kann es dann Kraft zu unserer Rettung sein und wie kann es gleichzeitig heißen, der Gerechte lebt aus dem Glauben. Wenn nämlich das Evangelium uns nur sagt, dass Gott gerecht ist, d.h. dass er jedem nach seinem Tun vergilt, was sagt es uns dann mehr als die antiken Philosophen und welche Hoffnung gibt es dann für uns. Wenn dies der Inhalt des Evangeliums ist, wieso kann es dann heißen, der Gerechte wird aus dem Glauben leben. Die Lösung dieser Schwierigkeit fand Luther darin, dass er den Ausdruck ‘Gerechtigkeit Gottes` nicht aktiv als die Gerechtigkeit, die Gott uns gegenüber als Richter ausübt, verstand, sondern passiv als die Gerechtigkeit, mit der wir von Gott beschenkt werden, d.h. Gott schenkt uns die Gerechtigkeit, die wir nicht haben, deshalb können wir, wenn wir dies im Glauben annehmen, leben. Gottes Gerechtigkeit ist daher identisch mit seiner Barmherzigkeit.


Mein Heil gründet nicht in meinem immer ungewissen und unvollkommenen Tun und Lassen, sondern allein in der verbindlichen Offenbarung von Gottes Güte und Barmherzigkeit in seinem Evangelium, in Jesus Christus. Gott liebt den Menschen, diese Zusage nimmt der Mensch im Glauben an. Wer wirklich glauben kann, dass Gott bedingungslos zu ihm steht, der gewinnt innere Freiheit. Die Sicherheit seines Lebens fand er nicht mehr, wie es die spätmittelalterliche Kirche nahelegte, im Gebrauch der kirchlichen Hilfsmittel, sondern in der Zusage von Gottes Liebe. 

Anstelle der uns unmöglichen Liebe und Gerechtigkeit nimmt uns Gott um der Liebe und Gerechtigkeit Jesu Christi willen an. 

* Oder theologisch abstrakt formuliert: solus Christus, allein Christus ist unser Heil, d.h. sola gratia, nur durch Gottes Gnade können wir gerechtfertigt werden. 

* Es gibt keinen menschlichen Zugriff auf Gottes Gnade. Gottes Gnade erreicht uns als Geschenk in der Verheißung, die uns in Gottes Wort trifft: sola scriptura

* Allein im Glauben, der selbst geschenkt ist, erfahre ich Gottes Gnade; das meint sola fide

Mein Heil gründet nicht in meinem immer ungewissen und unvollkommenen Tun und Lassen, sondern allein in der verbindlichen Offenbarung von Gottes Güte und Barmherzigkeit in seinem Evangelium, in Jesus Christus. Diese Zusage Gottes nimmt der Mensch im Glauben an. Wer wirklich glauben kann, dass Gott bedingungslos zu ihm steht, der gewinnt innere Freiheit.

Diese neue Glaubensgewissheit verlieh Luther die Kraft, freimütig Stellung gegen die missbräuchliche und schändliche Ablasspraxis seiner Zeit zu nehmen. In der öffentlichen Auseinandersetzung erwies er einen erstaunlichen Mut und immer neue Einsatzbereitschaft zur Verteidigung der befreienden Wirkung des Evangeliums. Seine Theologie hat sich dann ohne Bruch allmählich entwickelt. 

Dass die Entwicklung der reformatorischen Theologie bei Luther nicht eine Augenblickserfahrung, sondern ein lebenslanger Prozess gewesen ist, betont er selbst wiederholt: „Ich habe meine Theologie nicht auf einmal gelernt, sondern habe immer tiefer und tiefer hineingraben müssen; dahin haben mich meine Anfechtungen gebracht, weil man ohne Übung nichts lernt.“

Es bleibt der wesentliche Ausgangspunkt: wir werden gnadenhaft durch Gottes Tat und nicht durch unsere eigenen Werke gerechtfertigt. Diese Erkenntnis war und wurde Zentrum seiner Verkündigung. Einzelne Konsequenzen, die aus seiner Rechtfertigungslehre folgten, zog Luther dann im Laufe der Kampfjahre und in seinem späteren Leben. 

Luthers Gnadenlehre basiert auf Augustin und ist in der kirchlichen Tradition gut verankert. Die damalige Theologie erkannte dies nicht sogleich und kämpfte vielfach auf Nebenschauplätzen. Heute ist es aber auch jedem katholischen Christen eine Gewissheit, dass die Liebe Gottes es ist, die ihn trägt und rettet.

 

Prof. Dr. Rolf Decot CSsR