Die Zeiten

Mancher Zeitgenosse erweckt den Eindruck, er lebe in der falschen Zeit.

Aber käme er mit einer anderen Zeit zurecht? Vielleicht litt mancher Steinzeitmensch darunter, dass ihm nur primitive Werkzeuge und keine hoch komplizierten modernen Maschinen zur Verfügung standen? Vielleicht ging mancher Urmensch nur widerwillig auf die Jagd und wäre glücklich gewesen, hätte er hinter einem Schreibtisch und vor Akten sitzen dürfen? Vielleicht gab es Höhlenbewohner, die das Bemalen der Felswände grässlich fanden und sich Spraydosen wünschten, oder Pfahlbauer, die statt in Sümpfen Stelzenbauten zu errichten, gerne zum Golfen gegangen wären? Vielleicht hätte sich mancher Denker des Altertums in einem modernen Forschungslabor wohler gefühlt als in einer Philosophenschule, und mancher mittelalterliche Ritter, sich statt auf ein Pferd, lieber in einen sehr viel schnelleren Porsche gesetzt. 

  Aber wer würde sich, wenn er könnte, für eine andere Zeit entscheiden? Wer möchte schon vor Jahrhunderten gelebt haben oder Jahrhunderte später leben? Wahrscheinlich kämen unsere Vorfahren mit unserer Zeit, und wir Heutigen mit deren Zeit nicht zurecht. Einstein wäre hundert Jahre früher nicht auf die Relativitätstheorie und Darwin nicht auf seine Evolutionstheorie gekommen. Bismarck müsste heute für die großeuropäische Lösung eintreten, Voltaire sich um einen noch beißenderen Spott bemühen; Mozart sich für den Jazz, für Rock und Pop entscheiden; Robespierre als Vorkämpfer für den humanen Strafvollzug auftreten, und der Kirchenlehrer Augustinus sich damit abfinden, dass er wegen seiner Vergangenheit auf das Bischofsamt verzichten muss. Könnte man die Menschen von einer in eine andere Zeit versetzen, es käme gewiss nichts Besseres heraus. Denn einer, der in seine Zeit nicht passt, würde auch in eine andere Zeit nicht passen.

Walter Rupp, SJ