Erkennen

11. JANUAR

Seitdem sich der Mensch in einem bewundernswerten, einzigartigen, Jahrtausende währenden Prozess das Aufrechtgehen angeeignet hat, nimmt er unter den Geschöpfen eine unumstrittene Vorzugsstellung ein. Mit dem Aufrechtgehen entdeckte er eine neue Dimension: das Oben und das Unten. Sie versetzt ihn in die Lage, von einer neuen Perspektive und von einer höheren Warte aus die Menschen und die Welt zu sehen. Diese Sichtweise, macht ihn fähig, zu erkennen.
Der französische Schriftsteller Paul Claudel unterscheidet drei Arten oder Stufen des Erkennens: Die erste ist so, als zöge man einen Schleier von einer Statue weg. Sie soll beiseite räumen, was den Blick verstellt: Missverständnisse, Aversionen oder Vorurteile. Die zweite Stufe des Erkennens ist wie ein Sonnenstrahl in einem dunklen Zimmer, der verschiedene Lichtzonen schafft und in das Wesen eines Gegenstandes eindringt. Sie strebt danach, über das bloß rationale Verstehen zu einer Erleuchtung, zu einem Aha-Erlebnis zu kommen. Und die dritte Stufe des Erkennens gleicht - wie Claudel meint - einem Keim, der in einen Boden eingesenkt wurde und als Same aufgegangen ist. Einsichten, die nur in den Köpfen existieren, aber nicht gelebt oder getan werden, sind wertlos. Wer seine Erkenntnisse vertiefen und erweitern will, begibt sich auf einen langen und steinigen Weg, der nie zu Ende geht. Obwohl die Menschheit mit Hilfe der Wissenschaft einen ungeheuren Reichtum an Erkenntnissen ansammeln und viele Fragen lösen konnte, so steht sie doch vor immer neuen Fragen. Ihre Zahl wird niemals kleiner, sondern größer. Die Wissenschaft wird nie alle Rätsel lösen. Und die Wissenschaftler wissen immer mehr von immer weniger: mehr in einzelnen Bereichen, aber auf Kosten des Gesamtüberblicks. Man könnte auch behaupten: Sie wissen immer weniger von immer mehr.
Der Mensch steht vor dem Dilemma: entweder sein Wissen zu erweitern, dann kann er nicht in die Tiefe dringen, oder in die Tiefe zu dringen, dann muss er andere Interessen hintanstellen, und sich ganz auf ein Gebiet konzentrieren. Er kann nicht beides zugleich: Fachmann und Universalgelehrter sein. Das Nicht-Gewusste, Unbeantwortbare, das, was nach allem Suchen und Forschen übrig bleibt, ist so umfassend, dass das Wenige, auf das man eine Antwort weiß, unbedeutend ist. Trotz allen Forschens wird es nur gelingen, das Dunkel unseres Daseins ein wenig zu erhellen. Alles Erkennen ist Stückwerk und gleichnishaft, und alles Beschreiben nur ein Stammeln.

Walter Rupp, SJ