Bloßstellen

16. JANUAR

Die Kirche hat gottlob keine Inquisitionsgerichte mehr. Dieses Geschäft haben ihr die Medien abgenommen. Natürlich bezichtigt man niemand mehr der Hexerei. Natürlich wird niemand mehr wegen irgendeines Vergehens auf einem Scheiterhaufen verbrannt. Aber das an den Pranger stellen wird noch praktiziert und nicht selten gibt es eine öffentliche Hinrichtung unter dem Beifall einer hohen Einschaltquote. Wir Heutigen haben den alten Jagdtrieb noch nicht abgelegt. Auch uns bereitet Fallenstellen und Beutemachen Spaß. Auch wir empfinden Lust dabei, wenn wir einen, der im Rufe steht, integer zu sein, so lange verfolgen können, bis der Nachweis gelingt, dass er einen Makel in seiner Vergangenheit vor der Öffentlichkeit verborgen hält. Das Bloßstellen wurde ein beliebter Freizeitsport. Im Medien-Zeitalter hat das Demaskieren und Entlarven Unterhaltungswert.
Der Datenschutz - eine wichtige Errungenschaft unserer Zeit - der das Recht auf informationelle Selbstbestimmung und den Schutz der Privatsphäre garantieren will, schafft es in einer computerisierten und vernetzten Informationsgesellschaft nicht, den Menschen vor Menschenjägern zu schützen. Oft wäre es besser, nicht zu wissen, was man nicht wissen muss: dass da einer, aus Unvorsichtigkeit, aus Schwäche oder Leichtsinn einmal schuldig geworden ist. Wüssten wir weniger über das Versagen eines Mitmenschen, manche Beziehungs-Probleme würden nicht entstehen. Es fiele uns weniger schwer, ihn anzunehmen.


Walter Rupp, SJ