Gruseln lernen

Wer das Gruseln lernen möchte, braucht nicht mehr - wie in Grimm’s Märchen – auszuziehen,

und die Abenteuer weit weg in fernen Ländern suchen. Er kann zuhause bleiben. Er muss nur die Nachrichten, Reports und Skandalgeschichten hören oder lesen, und die Bilder auf sich wirken lassen, die ihm die Medien täglich liefern. Früheren Generationen war das kaum möglich, so hautnah mit dem Schrecken konfrontiert zu werden.
Der zivilisierte Mensch stopft sich schon am Morgen, gleich nach dem Erwachen, beim Lesen der Tageszeitung oder einer Illustrierten, mit angstmachenden Berichten voll: Jeder vierte Deutsche sei depressiv. - Die Zahl jugendlicher Straftäter…, die schleichende Geldentwertung nehme zu.- Im Flugverkehr gebe es erschreckende Sicherheitsmängel. - die Ansteckungsgefahr harmlos gehaltener Viren sei nicht zu unterschätzen. - Als reiche das nicht aus, nimmt er dazu noch Abend für Abend angstmachende Bilder: von Naturkatastrophen, Serienunfällen auf den Straßen, Flugzeugabstürzen, Raubüberfällen oder Geißelnahmen als letzte Eindrücke des Tages mit in seinen Schlaf hinein.
Wohin verschwinden diese Schocküberschriften, Schreckensbilder und Horrorberichte, die jeder Tag für Tag mit seinem Morgenkaffe oder Abendimbiss hastig verschlingt? Sie lösen sich gewiss nicht in Nichts auf, sondern wirken weiter, krallen sich in der Seele fest und verkriechen sich ins Unterbewusstsein, um dort das Phantasieren fortzusetzen und Unwohlsein auslösen. Und wie verhindern wir, dass diese Ängste zu einschüchternden Gestalten werden? Wie werden wir sie wieder los? Ja, wie entgehen wir der Gefahr, uns von überall her bedroht zu fühlen?
Damit wir keinen Schaden nehmen, sollten wir versuchen, in den Medienangeboten auch die Mut machenden Bilder und Berichte zu entdecken. Wir brauchen sie als Gegengewicht, damit wir nicht als schielende und an Schwermut leidende Zeitgenossen durch das Leben gehen.

Walter Rupp, SJ