Die Fabel

Während wir heute kurz und bündig sagen: dass es nicht auf die Menge ankommt, sondern auf den Wert, erzählt der Dichter Äsop eine Fabel:

Während wir heute kurz und bündig sagen: dass es nicht auf die Menge ankommt, sondern auf den Wert, erzählt der Dichter Äsop eine Fabel: „Man machte der Löwin den Vorwurf, dass sie nur ein Junges zur Welt brächte. Ja, sprach sie, nur eines, aber einen Löwen“. 

Fabeln waren einmal eine beliebte literarische Gattung. Sie werden von der schnellen Information, der gerafften Wissensvermittlung oder der kurzen Nachricht verdrängt, denn geduldiges Hinhören wird weithin als Zeitverschwendung angesehen. Fabeldichter wählen, weil sie wissen, dass man eher zuhört, wenn man andere meint, einen Umweg. So fabuliert Lessing, als habe er die Situation nach dem Zweiten Vaticanum vorausgesehen: „Eine alte Kirche welche den Sperlingen ungezählte Nester gab, ward ausgebessert. Als sie nun in ihrem neuen Glanz da stand, kamen die Sperlinge wieder, ihre alten Wohnungen zu suchen. Allein sie fanden sie alle vermauert. Zu was, schrien sie, taugt denn nun das große Gebäude? Kommt, verlasst den unbrauchbaren Steinhaufen“! 

Bei dieser Fabel muss sich der Mensch die Frage stellen, ob auch er – wie die Sperlinge - nichts weiter an der Kirche sucht, als eine Nische, in der er sein Nest bauen kann, um sich darin zu verstecken? Fabeln sind eine unaufdringliche und elegante Form der Belehrung. Der Fabeldichter lässt den Menschen mithören, wenn Tiere sich belehren, denen es an Lebenserfahrung und Lebensweisheit fehlt, und hofft, dass er ihn dadurch nachdenklich, vielleicht sogar betroffen machen kann.

Walter Rupp, SJ