Gesichter

Es gibt so viele Gesichter wie es Menschen gibt, aber keines gleicht einem anderen. Jedes hat die ihm eigenen Züge.

Es gibt das schöne, aber langweilige, und das vom Leben gezeichnete, aber interessante Gesicht. Es gibt das Vertrauen erweckende Gesicht, mit den strahlenden Augen, von denen man sich gern ein Stück Frohsinn mitnimmt; und das Gesicht mit den trüben, müden Augen. Es gibt Gesichter mit der hohen Stirn, hinter der kühne Gedanken lauern; mit den Falten, in denen sich Misstrauen versteckt; mit der kantigen, scharfen Nase, die Spürsinn verrät oder mit den zusammengekniffenen Lippen, denen man anmerkt, dass sie Äußerungen nur ungern unterdrücken. Es gibt das Gesicht mit den hochgezogenen oder den tief herabhängenden Augenbrauen; das verschmitzte Gesicht, das Sinn für Humor und Witz ausdrückt, und das erstarrte, leblose Gesicht, das wie eine Uhr, bei irgendeinem Ereignis plötzlich stehengeblieben zu sein scheint. Gesichter sind ungeschützt. In ihnen drücken sich die Eigenart und der Charakter eines Menschen aus. Oft legen sie das Innere bloß und zeigen - wie auf einem Bildschirm - wie es drinnen aussieht. Wer in das Gesicht eines Menschen blickt, schaut in seine Seele. Das ist wohl der Grund, weshalb mancher krampfhaft versucht, sich hinter einer Maske zu verstecken. 

Heute kommt es vor, dass bildhübsche Mädchen einen kosmetischen Chirurgen mit dem Wunsch aufsuchen: „Ich möchte aussehen wie die“... und ihm das Foto eines Models zeigen. Aussehen wollen wie eine andere heißt, nicht sein wollen wie ich von Natur aus bin, wie ich sein soll. Es bedeutet, seine Originalität und Individualität verachten. Gesichter gleichen Tagebüchern, in die das Leben alle Ereignisse hineinschreibt: Erfolge oder Misserfolge, Hoffnungen, Enttäuschungen und Leiden. Gesichter sind die einzig wahren Biographien und die einzigen Memoiren, die nicht lügen, weil es nicht mehr möglich ist, die Linien herauszuradieren, die die Lebensgeschichte eingraviert hat.

Walter Rupp, SJ