Lüge

Die Frage wird wohl nie zu beantworten sein, ob Epamenides, der behauptete,

dass alle Kreter Lügner sind, auch gelogen hat, weil er ja auch ein Kreter war, oder ausnahmsweise einmal die Wahrheit sagte. Da das Lügen ein Talent ist, das nicht nur die Kreter mitbekommen haben, sondern jeder von Natur aus hat, unterscheiden sich andere Völker diesbezüglich nicht von ihnen. Wie ist es zu erklären, dass Aussagen vor Gericht bei den verschiedenen Zeugen, obwohl es um denselben Tatbestand geht, so verschieden ausfallen? Selbst mit Hilfe von Lügendetektoren ist es meist unmöglich, herauszufinden, ob einer die Wahrheit sagt oder lügt.
Der Philosoph Gottfried Friedrich Lichtenberg begann einmal eine Vorlesung mit den Satz: „Heute sprechen wir über die Lüge. Bevor ich jedoch damit beginne, möchte ich wissen, wer mein Buch ‚Verschiedene Arten der Lüge‘ gelesen hat?“ - Als die Mehrzahl der Studenten auf diese Aufforderung hin die Hand erhob, bedankte er sich mit den Worten: „Ich habe nie ein Buch über die Lüge geschrieben. Sie ersehen daraus, wie wichtig diese Vorlesung ist.“- Auch heute würden die meisten bei der Frage, ob sie ein Buch gelesen haben, das nie geschrieben wurde, ihre Hand erheben. Eine Belehrung über das Lügen ist darum immer angebracht.
Die meisten sind der Meinung, es sei unmöglich, ganz ohne Lügen auszukommen. Sie lügen, nicht weil sie lügen möchten, sondern weil sie phantasielos sind und die Geschicklichkeit nicht besitzen, sich indiskreten Fragen und aufdringlichen Fragestellern zu entziehen. Das Gebot: ‚Du sollst kein falsches Zeugnis geben‘ verlangt, dass man die Wahrheit nicht verdreht, sie nicht schminkt. Es gebietet aber nicht, dass man die Wahrheit immer und jedem gegenüber offenlegt. Und es verbietet nicht, dass man über die Wahrheit schweigt, sie übergeht, sie vor Missbrauch und vor denen schützt, die damit nicht umgehen können.
Der Mensch, der immer dazu neigte, sich und andere zu belügen, ist dann am meisten in Gefahr die Unwahrheit zu sagen, wenn er Unwissenheit oder Schwächen eingestehen soll. Immer dann, wenn er im Rampenlicht steht und sich darstellen darf: vor den Kameras und Mikrophonen. Es ist deshalb immer Skepsis gegenüber den Aussagen angebracht, die vor einem großen Publikum geschehen. Manchmal wäre die nackte Wahrheit die beste Tarnung, weil sie doch niemand glaubt.


Walter Rupp, SJ