Anstand

Die guten Sitten geraten in Vergessenheit! Es hat sich der anstandslose Umgang durchgesetzt. Es wurde üblich, so mit jedem umzugehen, wie er es sich gefallen lässt.

Die guten Sitten geraten in Vergessenheit! Es hat sich der anstandslose Umgang durchgesetzt. Es wurde üblich, so mit jedem umzugehen, wie er es sich gefallen lässt. In U-, S- oder Straßen-Bahnen bietet man seinen Platz nicht mehr an, weil es durchaus rüstige Rentner gibt, die auch eine längere Strecke stehen können. Aber bei Kindern, die sich nach einem stundenlangen, ermüdenden Sitzen in den Schulbänken auf dem Nachhauseweg befinden, hält man es für ratsam, seinen Platz - bevor sie lästig werden - freiwillig zu räumen. So trägt man zur Beendigung des Generationskonfliktes bei. 

Einladungen kann man jederzeit, vor allem wenn es sich um Partys handelt, unbesorgt annehmen, weil die dort installierten Beschallungsanlagen garantieren, dass niemand in ein Gespräch verwickelt wird. Die Zeiten, in denen man Liebeserklärungen verschämt in einem geschlossenen Couvert verschickte, sind passe? Man erledigt so etwas per Handy in Gaststätten und voll besetzten Bussen. Die Umstehenden bringen dafür stets Geduld und Verständnis auf. 

Während sich mancher heute mit Haustieren einfühlsam unterhalten kann, bereitet ihm der Umgang mit Seinesgleichen Mühe. In unserer Gesellschaft, die ja aus sehr verschiedenen Charakteren besteht: Aus Schwätzern, Unsympathen, Höhergestellten, Besserverdienern oder Besserwissern, findet man es gut, wenn jeder auf jeden zugeht, um ihn herzlich zu umarmen und noch herzlicher zu küssen. So zwingt man ihn zur Freundschaft, und verbreitet das beruhigende Gefühl von Harmonie.


Walter Rupp, SJ