Versuchungen

Der Mensch muss häufig die Erfahrung machen, dass Versuchungen meist überlegen sind

"Versuchungen bekämpft man" - meint Joachim Ringelnatz - "am besten mit Geldmangel oder Rheumatismus." Ja, es gibt Laster, die kann sich nur der leisten, der über die nötigen Geldmittel verfügt. Und es gibt Verbrechen, die nur mit einer stabilen Gesundheit möglich sind. Meist fängt der Mensch erst an, tugendhaft zu leben, wenn seine Natur beim Sündigen nicht mehr mitmacht. 

Der Mensch muss häufig die Erfahrung machen, dass Versuchungen meist überlegen sind: Sie denken schneller; argumentieren gewandter; wissen, wie man Bedenken zerstreut und Einwände widerlegt. Sie zu ignorieren, ist nicht möglich. Davonlaufen hilft nicht viel, weil man ja einmal müde wird. Ins Gebet flüchten, ist auch keine Lösung, weil sie sich auch ins Gebet einschleichen. Und sich auf ein Kräfte-Messen einlassen, ist ein Wagnis, das man vermeiden sollte, weil sie entschlossener ihr Ziel verfolgen und meist am Ende triumphieren. 

Viele wären dankbar, wenn es gegen Versuchungen ein wirksames Mittel gäbe. Die Leute würden, selbst wenn sie dafür zahlen müssten, danach greifen, denn auch das Sündigen ist teuer. Versuchungen stellen oft, nachdem man sich mit ihnen eingelassen hat, hohe Rechnungen. 

Die Pharmaindustrie wird es wohl nie schaffen, Medikamente auf den Markt zu bringen, mit denen man entweder Versuchungen einschläfern oder sich widerstandsfähig oder unempfindlich machen kann. Wäre das möglich, würde es nur noch die eine Versuchung geben, diese Mittel nicht zu nehmen.


Walter Rupp, SJ