Lebensgestaltung

Leben ist für viele nicht das große Glück, sondern das geringere Übel.

Leben ist für viele nicht das große Glück, sondern das geringere Übel. Sie richten sich weniger auf das Leben als auf das Überleben ein. Sie begnügen sich damit, dem Leben ein paar schöne Seiten abzugewinnen, auf der Karriereleiter ein wenig nach oben zu klettern und sich ein Einkommen zu sichern, mit dem man sich etwas leisten kann. Sie bilden sich ein, die Glücksgefühle ließen sich steigern, indem man den Konsum anhebt, die Freizeitmöglichkeiten ausdehnt und seinen Erlebnishunger mit immer neuen Reizen stillt.

So wurde Rainer Maria Rilke in seinem 28. Lebensjahr eines Morgens von dem Gedanken wachgerüttelt, er habe das Wesentliche vielleicht versäumt und eigentlich noch nicht gelebt: "Ist es möglich", denkt es in ihm - "dass man noch nichts Wirkliches und Wichtiges gesehen, erkannt und gesagt hat? ... Ist es möglich, dass man trotz Erfindungen und Fortschritt, trotz Kultur, Religion und Weltweisheit an der Oberfläche des Lebens geblieben ist? ... Dass man sogar diese Oberfläche ... mit einem unglaublich langweiligen Stoff überzogen hat? ... Ist es möglich, ... dass das Leben abläuft mit nichts verknüpft, wie eine Uhr in einem leeren Zimmer?" Und er muss sich eingestehen: "Ja, es ist möglich." 

Nicht weniger betroffen geht Max Frisch der gleichen Frage nach: "Was bin ich denn? Ein Mann von dreißig Jahren... Hälfte des Lebens… Wann fängt es denn an, das wirkliche, das sinnvolle Leben?... So habe ich gelebt, ganz ohne Spur, ohne jedes Erzeugnis, das bleibt... Eines Morgens liegt man im Bett und greift sich an die Stirne: Mein Gott, das ist mein Leben." 

Ohne dieses Erschrecken, man lebe vielleicht am Wesentlichen vorbei und verbringe seine Zeit nutzlos, - das die meisten leider erst am Ende ihres Lebens überfällt - gibt es kein Erwachen. Oft dauert es lange, bis der Mensch begreift, dass Leben die Summe dessen ist, was einer daraus macht. Es sollte darum jeder, dem etwas an einem geglückten Leben liegt, leben, als müsste er täglich sterben, und arbeiten, als dürfte er ewig leben.


P. Walter Rupp, SJ