Die Seele

Der Leib ist mehr als nur ein hoch komplizierter Organismus.

Virchow, der berühmte Arzt, sagte von sich: Er habe im Laufe seines Lebens an die tausend Leichen seziert, aber nie eine Seele gefunden. Er hätte eben nicht in Leichen nach einer Seele suchen sollen. – Suchte er nach ihr wie nach einer Sehne? Und glaubte er, nur das sei wirklich, was sich mit einem Skalpell bloßlegen und mit einer Pinzette fassen lässt? 

Der Leib ist mehr als nur ein hoch komplizierter Organismus. Viele Krankheiten lassen sich nicht auf bloße körperliche Dysfunktionen zurückführen, sie haben oft seelische Ursachen. Die Psychoanalytiker und Psychotherapeuten haben die unter den Naturwissenschaftlern des vergangenen Jahrhunderts weithin verbreitete Auffassung, dass das nicht ist, was man nicht sehen oder greifen kann, gründlich widerlegt. 

Die Seele ist nicht so unsichtbar, wie man gemeinhin meint, sondern in allen Teilen des Organismus gegenwärtig, von der Stirne bis zur Zehe. Sie belebt die einzelnen Organe und ist auch wieder auf sie angewiesen. Ohne Hirn und ohne Sinne ist ein Denkprozess nicht möglich. Die Wechselwirkung zwischen Leib und Seele ist so intensiv, dass man vom Äußeren, von der Körperhaltung, der Stimme oder dem Gesichtsausdruck, auf den Zustand der Seele schließen kann. Wir sind psychosomatische Wesen. Körperliche Leiden lösen immer auch seelische Leiden aus, und seelische Probleme nisten sich in den Organen ein. Eine Krankheit quält nie den Leib allein, immer auch die Seele. Es kann deshalb nur der Arzt helfen und heilen, der nicht nur die Organe, sondern den ganzen Menschen sieht.


P. Walter Rupp, SJ