Hunger nach Erfahrung

Das ist unbestritten: niemand kann seine eigenen Erfahrungen einfach an die nachfolgenden Generationen weitergeben.

Das ist unbestritten: niemand kann seine eigenen Erfahrungen einfach an die nachfolgenden Generationen weitergeben. Dennoch gibt es wenige, die sie für sich behalten. Die meisten Mitmenschen sind im Erteilen gutgemeinter Ratschläge allzu hilfsbereit. Wann immer sie vermuten, jemand könnte im Zweifel sein, eilen sie rührend besorgt hinzu und teilen von ihren reichen, oft schmerzlich erworbenen, kostbaren Lebenserfahrungen willig aus; ja sie nötigen sie förmlich auf, natürlich nur zu unserem Besten und auch nur, um die Enttäuschungen von uns fernzuhalten, die ihnen selbst nicht erspart geblieben sind. Sie verraten dann den "einzig richtigen" Weg: den idealen Pfad nach oben; die Hintertür bei Schwierigkeiten; den Notausstieg in den ganz kniffligen Lebenslagen; die Treppe, die außer ihnen wenige kennen und benützen. Es sind die Wege, die sie "widriger Umstände“ halber leider selbst nicht gehen konnten. Die Belehrung über eigene Erfahrungen ist nur selten hilfreich! Denn keiner kann stellvertretend für den anderen leben. Jeder muss sein eigenes Leben leben und somit auch seine eigenen Erfahrungen machen. Nur so kann er sich erproben, so lernt er, seine Kräfte richtig einzuschätzen. Ohne sie könnte er nicht reifen. 

So kühn es klingt: Auch negative Erfahrungen sind nicht ganz wertlos, vorausgesetzt, man ist gewillt, daraus zu lernen. Natürlich sollten negative Erfahrungen, so gut es geht, vermieden werden. Doch wer geht schon den geradlinigen und direkten Weg? Nicht einmal Heilige sind ihn von Anfang an konsequent gegangen! 

Wollen wir, dass andere die Fehler nicht wiederholen, die wir selbst begangen haben, so hilft dagegen keine Warnung. Konfuzius, der chinesische Weise, sagte seinen Schülern: Es gibt drei Wege, klug zu werden: "Das Nachdenken ist der vornehmste, das Nachahmen der einfachste und die Erfahrung der bitterste." Niemand kann erklären, weshalb der Mensch es reizvoll findet, den bittersten Weg dem einfachen und vornehmsten vorzuziehen.


P. Walter Rupp, SJ