Die Erzählkunst

Die Kunst des Fabulierens, auf die man sich das ganze Altertum hindurch verstand, ist im Zeitalter der Medien nicht besonders angesehen.

Die Kunst des Fabulierens, auf die man sich das ganze Altertum hindurch verstand, ist im Zeitalter der Medien nicht besonders angesehen. Da legt man Wert auf Information. Man will ein Ereignis gleich nachdem es sich ereignet hat, noch ofenwarm auf dem Tisch; man bevorzugt den nüchternen, in wenige Zeilen zusammengerafften Bericht oder den Kommentar, der ein Geschehen leicht bekömmlich aufbereitet. Da greift man zur flott und unterhaltsam geschriebenen Glosse, die man nebenbei und ohne lange kauen zu müssen, hinunterschluckt. Da nimmt man sich vielleicht noch Zeit zum Feuilleton, das elegant und weltgewandt daherkommt. Sonst aber bevorzugt man die schmucklose Abhandlung, die nur Fakten bringt, und lässt sich gern von einer Neuigkeit zu einer anderen hetzen. 

Im Zeitalter der Medien wird das Verweilen bei Gedanken, die zu einem Ausflug einladen, und die man nicht sofort konsumieren kann, als Zeitvergeudung angesehen. Das Erzählen von Geschichten bleibt den Betreuerrinnen und Betreuern von Kindern überlassen und hört mit der Kindheit meist für immer auf. Dabei könnte es für die vielen Leitartikler, Kommentatoren, Entertainer, Showmaster oder Berichterstatter vielleicht von Nutzen sein, wenn sie in die Schule orientalischer Märchenerzähler gingen, wenn sie sich mehr darum bemühten, wie man Spannung erzeugt und Aufmerksamkeit erregt. 

Wer die Kunst des Erzählens beherrschen möchte, muss lernen, wie man streunende Gedanken einfängt, müde Gedanken munter macht und schlummernde Gedanken weckt. Er muss die Gedanken, Ängste oder Träume, die wir haben, formulieren können. Der Erzähler macht aus Worten Melodien und bringt Farbe in die Sprache. Das ist das Geheimnis, weshalb man ihm gerne zuhört und der Grund, weshalb er oft Aha-Erlebnisse auslöst.


P. Walter Rupp, SJ