Lesen

Ein Leser, der von der Strömung und den Strudeln der Papierflut nicht fortgerissen werden möchte, muss ein guter Schwimmer sein.

Einst schrieben Mönche in jahrelanger, mühsamer Kleinarbeit alte Handschriften ab, um sie der Nachwelt zu erhalten. Heute wird in einem Jahr mehr geschrieben und gedruckt als früher in Jahrhunderten: jährlich über hunderttausend Bücher, zigtausend Tageszeitungen und Illustrierte.
Mancher beurteilt diesen Zustand pessimistisch, als Strafe Gottes, der in seinem Unmut über uns eine moderne Art von Sintflut schickte: diesen ständig anschwellenden Papierstrom, um uns darin zu ertränken. Man kann gegen diese Papierflut - wie einst Noach - keine Arche zimmern und mit Gottvertrauen warten, bis Strom und Wolken ausgetrocknet sind. 

Ein Leser, der von der Strömung und den Strudeln der Papierflut nicht fortgerissen werden möchte, muss ein guter Schwimmer sein. Er muss wissen: dass Journalisten, die nicht alles selbst erfahren, auf Mittelspersonen, auf Agenturen oder Übersetzer angewiesen sind, und - wenn sie nicht sorgfältig recherchieren - Fehlinformationen erliegen können. Dass Journalisten Aufmerksamkeit und Spannung erzeugen möchten, und oft einen unterhaltsamen Bericht anbieten, der sich etwas von der Wirklichkeit entfernt. Dass Journale die Kunst der „Readability“ beherrschen, das Geschick, einen Stoff leicht lesbar darzustellen und gern die Wenn und Aber und Vielleicht nicht beifügen, weil das die Sache komplizierter macht. Ja dass auch Journalisten oft Mühe haben, ihre subjektive Weltsicht auszublenden. Der Leser kann sich nur durch ein gesundes Urteil schützen.


P. Walter Rupp, SJ