Schicksal

Die Behauptung, das Schicksal forderte die Züchtigung des Dieners, ist herbeigeholt und unbegründet,

Zenon von Cypern - der Gründer der stoischen Philosophie - vertrat die Ansicht: Alles sei vorherbestimmt. Der Mensch sei nicht frei und müsse sich seinem Schicksal unterwerfen. Als einer seiner Diener, der bei einem Diebstahl ertappt worden war und dafür gezüchtigt werden sollte, beteuerte: »Ich musste stehlen! Mein Schicksal hat es so gewollt«, erwiderte Zenon, der ein scharfsinniger, ja spitzfindiger Denker war, und die Kunst der Dialektik beherrschte: »Du hast wohl recht! Aber das Schicksal wollte nicht nur, dass du stiehlst, es will auch, dass du danach gezüchtigt wirst! «

Nun, die Behauptung, das Schicksal forderte die Züchtigung des Dieners, ist herbeigeholt und unbegründet, denn es hat sich dazu nicht geäußert. Vielleicht wäre es dem Schicksal lieber gewesen, Zenon wäre seiner Philosophie treu geblieben und hätte als echter Stoiker Gleichmut gezeigt und diesen Diebstahl apathisch hingenommen. 

Zenon hatte sich in eine Theorie verliebt, ohne zu prüfen, ob sie mit der Realität in Einklang zu bringen ist. Seine eigenen Gefühle sträubten sich gegen die Schicksalsidee, die sein Gehirn ausgebrütet hatte. Er spürte, dass man Unrecht nicht mit der Begründung der Vorherbestimmung geschehen lassen darf. Wenn das Schicksal sich so widersprüchlich verhält - zuerst zu Untaten anstiftet und dann Genugtuung verlangt - sollte nicht der Mensch, der ja dem Schicksal ausgeliefert ist, dafür gerade stehen müssen. Dann sollte das Schicksal die Prügel hinnehmen.


P. Walter Rupp, SJ