Vorurteile

Es gibt nicht nur eine biologische, sondern auch eine geistige Vererbung.

Es gibt nicht nur eine biologische, sondern auch eine geistige Vererbung. Gedanken und Ideen werden nicht immer erdacht. Häufig werden sie wie ein Erbmaterial einfach weitergereicht. Irgendjemand, der nicht mehr namhaft zu machen ist, streut eine Behauptung aus, die nahezu von jedem angenommen und wieder weitergegeben wird. Es ist erstaunlich, wie lange sich Behauptungen oft behaupten können. Eine Äußerung unter Bekannten, bei einer Personalbesprechung oder in einer firmeninternen Sitzung genügt: Mit dem oder ihr sei eine Zusammenarbeit unmöglich, ihm oder ihr dürfe man nichts anvertrauen … und dieses Vorurteil ist nicht mehr zu tilgen. 

Schon unsere Väter sagten es, und wir sagen es noch immer: dass der Deutsche sich durch Ordnungsliebe und Fleiß auszeichnet; Spanier temperamentvoll und Schweden kühl sind; Italiener zum Pathos neigen, der Katholik weniger von der Freiheit hält als der Protestant, Lehrer Alleswisser und Politiker unglaubwürdig sind. Vorurteile werden in Unterhaltungen und Lehrbüchern verbreitet, und in Zeugnisse, in Personalakten und Beurteilungen hineingeschrieben. Stehen sie da einmal drin, genießen sie eine Art Unsterblichkeit. Man reicht sie von Behörde zu Behörde und von Firma zu Firma weiter. Wer das Glück hatte, als hoch qualifiziert eingestuft zu werden, bleibt hoch qualifiziert, weil es ja so in den Akten steht. Und wer das Pech hatte, als wenig geeignet beurteilt zu werden, der wird auch durch intensive Weiterbildung daran nichts ändern können. Die Vorurteile in den Personalbögen gleichen manchmal einer Inschrift, wie man sie an Gedenktafeln anbringt, und manchmal einer in Stein gemeißelten Grabinschrift. Sie werden entweder ehrfürchtig oder wie ein Nachruf auf einen Verblichenen gelesen.


P. Walter Rupp, SJ