Lachen und Weinen

Viel zu viele trauen sich zu, über den seelischen Zustand ihrer Mitmenschen ein Urteil abzugeben

Viel zu viele trauen sich zu, über den seelischen Zustand ihrer Mitmenschen ein Urteil abzugeben, obwohl sie nur deren äußere Verhaltensweisen kennen, weil es weit und breit als selbstverständlich gilt, dass das Äußere ein Spiegelbild des Inneren ist, und man aus dem äußeren Verhalten Schlüsse ziehen kann.
Mit welchem Recht darf man den Schluss ziehen, ein aufgeräumtes Zimmer, eine gefällige Handschrift, eine gepflegte Kleidung seien Ausdruck eines harmonischen Charakters? Und lockeres Auftreten, lässiger Umgang mit der Zeit oder mangelnde Ordnungsliebe deuteten auf das Gegenteil hin? Darf man folgern: Wer sich gesellig zeigt, gerne lächelt oder scherzt, ist fröhlich? Wer einsilbig oder schweigsam ist, hat Kummer? Und darf man behaupten: wer viel rede, habe das Bedürfnis, auf sich aufmerksam zu machen? 

Leider sind Verhaltensweisen nicht so leicht zu deuten, denn jedes Verhalten kann viele und verschiedene Gründe haben. Es gibt Psychologen, die bezweifeln, ob die Menschen immer weinen, weil sie Grund zum Trauern haben, oder lachen, weil sie wirklich fröhlich sind. Denn man kann auch aus Verzweiflung lachen und vor Freude weinen! Es wird immer Leute geben, die ohne einen Anlass dafür zu haben, ein missmutiges Gesicht mit sich herumtragen, und solche, die Ursache zur Klage hätten, aber freundlich lächeln! Oft sind Menschen traurig, weil sie weinen, und fröhlich, weil sie lachen. Das Traurigsein ist oft das Ergebnis aufgestauten Ärgers, mit dem sich einer die eigene Laune, und die der anderen verdorben hat. Und umgekehrt kann positives Denken eine optimistische Stimmung auslösen. „Man tut nicht nur, was man ist“, - behauptet Robert Musil - „man wird auch, was man tut“.

Gottlob ist keiner seinen Stimmungen wehrlos ausgesetzt. Jeder kann, wenn er sich Mühe gibt, auf sie Einfluss nehmen. Er kann durch pausenloses Lamentieren dem Trübsinn verfallen oder durch heitere Gedanken fröhlich werden. Wer mit seiner depressiven Stimmung nicht fertig wird, sollte sich - wie der König Saul - einen David kommen lassen, der es versteht, mit seinem Harfenspiel düstere Gedanken zu verscheuchen.


P. Walter Rupp, SJ