Gerechtigkeit

Um die Gerechtigkeit ist es noch immer schlecht bestellt.

Wir schlichten unsere Streitfälle nicht mehr in einem Eilverfahren mit der Pistole oder mit dem Degen im Duell, sondern in langwierigen Prozessen. Aber auch wir können nicht ausschließen, dass der, dem Unrecht geschah, auch heute in einem Rechtsstreit unterliegt und der, der Unrecht tat, am Ende triumphiert. 

Haben wir heute eine größere Gerechtigkeit erreicht? Unsere Rechtsprechung verhindert zwar, dass man Streitigkeiten mit einer Waffe löst, aber sie verhindert nicht, dass sowohl Kläger wie Beklagte gleicher Weise Opfer werden, weil sie einem Vergleich zustimmen und für die Beilegung eines Rechtsstreites gleich hohe Summen zahlen müssen. Und sie unterbindet nicht, dass der zu einer Gefängnisstrafe Verurteilte, während seiner Haft seine Memoiren schreiben und an jene Illustrierte verkaufen darf, die am meisten bietet, sozusagen als Entschädigung für das Geld, das ihm wegen seines misslungenen Bank-Überfalls entgangen ist. 

Um die Gerechtigkeit ist es noch immer schlecht bestellt. Die Menschheit hat es zwar bis heute auf circa drei Millionen Gesetze gebracht. Es gibt kaum eine Situation, die nicht geregelt wurde. Aber sie hat mit dieser Fülle von Gesetzen, Anweisungen, Vorschriften und Ausführungsbestimmungen die Gerechtigkeit nicht sicherer gemacht, sondern auch Auswege geschaffen, auf denen man Gerechtigkeit umgehen kann. 

Das Bemühen, eine gerechte Welt zu schaffen, muss ein Ziel bleiben, auch wenn es nie zu einem befriedigenden Ergebnis führt. Es muss uns klar sein, dass Paragraphen allein nicht weiter führen, wenn die Gewissen der Menschen stumpf sind und zwischen Gut und Böse nicht unterscheiden. Wir haben ausreichend Gesetze produziert. Wir dürfen dabei nicht vergessen, auch etwas für die Schärfung der Gewissen zu tun. 


P. Walter Rupp, SJ