Märchen

Ein Märchen, das heute im Umlauf ist, lautet: Es wird einmal sein, da werden die Menschen weder Gebote noch Verbote brauchen,

Ein Märchen, das heute im Umlauf ist, lautet: Es wird einmal sein, da werden die Menschen weder Gebote noch Verbote brauchen, weil sie keine Versuchungen mehr bestehen müssen und das Gut-Sein ihnen keine Mühe mehr bereitet. Habt nur noch etwas Geduld! Wenn die Medizin einmal herausgefunden hat, verspricht das Märchen, wie die Neigungen von Gewaltverbrechern, Triebtätern oder Süchtigen durch einen operativen Eingriff behoben werden können; wie man charakterliche Mängel durch eine Hormonbehandlung korrigiert; wie man Aggressionen durch Sedativa dämpft, Depressionen mit Stimulanzien in Heiterkeit umwandelt; Verschwendungssucht durch Pillen und Habgier durch Injektionen heilt, wird das Gut-Sein nur noch ein medizinisches und kein moralisches Problem mehr sein. Wenn man einmal mit Medikamenten aus labilen, ethisch hochstehende Persönlichkeiten machen kann, wird man die Pädagogik, die Askese und die Rehabilitationspraktiken für überholt erklären müssen. Man wird künftig Selbstvorwürfe, Schuldgefühle, ängstliche oder zur Skrupelhaftigkeit neigende Gewissen bewusstlos spritzen, sodass es niemand mehr in Unruhe versetzen kann. Dann werden nicht mehr Tugend und Moral, sondern die richtige Dosierung der Präparate für den Charakter eines Menschen ausschlaggebend sein. 

Wenn dieses Märchen je Wirklichkeit werden sollte, sollte man diesen Fortschritt schleunigst stoppen. Denn dann hätte die Medizin aus dem, mit einem freien Willen begabten Menschen, ein willenloses Werkzeug gemacht.


P. Walter Rupp, SJ