Sinne

Sinnliche Eindrücke müssen gedeutet werden, weil die Sinne oft lügen und oft kein getreues Abbild von der Wirklichkeit geben,

Natürlich braucht der Mensch, wenn er die Welt begreifen will, intakte Sinne. Ohne sie wären wir verloren. Aber allen, die den Grundsatz: „Ich glaube nur, was ich sehe“, zur Richtschnur ihres Denkens und Handelns machen, kann man nur raten, den Sinnen nicht blind zu vertrauen. Denn sie sind es doch, die uns häufig in die Irre führen würden, wenn der Verstand nicht eingreifen und die sinnlichen Eindrücke nicht korrigieren würde. Er bewahrt uns vor dem Irrtum, nicht die Sinne. 

Sinnliche Eindrücke müssen gedeutet werden, weil die Sinne oft lügen und oft kein getreues Abbild von der Wirklichkeit geben, sondern sie oft verzerrt erscheinen lassen. Man kann aus der Mimik und den Gesten eines Gesprächspartners falsche Schlüsse ziehen: er sei mit einer Ansicht einverstanden, weil er es versteht, seine wahre Gesinnung zu verstecken. - Unsere Augen sehen einen Stab, den man ins Wasser hält, gebrochen. Sie gaukeln dem vom Durst Getriebenen in der Wüste eine Fata Morgana vor, so dass er glaubt, er stehe vor einer blühenden Oase. - Sie versetzen den Besucher des Theaters- oder Kinos in eine Scheinwelt, als würde da jemand auf der Bühne oder auf der Leinwand bluten oder sterben. - Und sie narren uns, sooft wir reisen: Sie täuschen uns den Eindruck vor, der Zug, in dem wir sitzen, bewege sich nicht, die Landschaft fahre an uns vorbei. - Die Sinne vermitteln die schöne Illusion, dass die Sonne aufgeht. Der Verstand belehrt uns, dass sie nicht aufgeht und dieser Eindruck nur entsteht, weil sich die Erde um die Sonne dreht.

Ohne Sinnestäuschung könnten wir uns nicht an einem Sonnenaufgang erfreuen, und ohne Sinnestäuschung würde uns die Zauberei keinen Spaß bereiten. Man darf sich manchmal schöne Illusionen gönnen. Sonst aber sollte man zur Regel machen, den Sinnen zu misstrauen, wenn man von ihnen nicht genarrt werden möchte. Es ist ratsam, was immer an sinnlichen Eindrücken auf uns einwirkt, der Prüfung des Verstandes zu unterziehen.


P. Walter Rupp, SJ