Zugereiste

Die Schauspieler und Stückeschreiber Nestroy und Girardi waren keine Wiener, aber niemand konnte das typisch Wienerische so gekonnt darstellen wie sie. Der Komiker Karl Valentin gilt als der Repräsentant bayerischer Wesensart, obwohl er seiner Herkunft nach kein Bayer war. Der auf dem Land aufgewachsene Watteau, tauchte so sehr ins Pariser Leben ein, dass ihm die schönsten Pariser Stadtbilder gelangen, und der in der Stadt aufgewachsene Eugen Bracht, war so wach für die Schönheiten der Natur, dass er der große Landschaftsmaler wurde. 

Was ist der Grund, dass oft gerade die Fremden, die Zugereisten, den schärferen Blick für die Reize einer Landschaft hatten, und oft die eindrucksvollsten Landschaftsbilder malten? Wie ist es zu erklären, dass sie die Vorzüge oder Schwächen eines Menschenschlages und das Charakteristische ihrer Psyche klarer erkannten als die Einheimischen? Ja wie ist es möglich, dass Friedrich Schiller die Schweiz – ohne sie je besucht zu haben - auf eine unnachahmliche Weise beschreiben konnte, zu der nicht einmal die Schweizer fähig waren? 

Die Tatsache, dass der Zugereiste meist mehr sieht und entdeckt, ist wohl darauf zurückzuführen, dass eben der, der von außen kommt, neugieriger ist, genauer hinsieht und eine Offenheit mitbringt, die den Einheimischen, weil ihnen alles selbstverständlich wurde, abhandenkam. Der Flachländer lässt sich leichter von der Majestät der Berge, und der Alpenbewohner von der Weite des Meeres faszinieren. Es ist nicht von ungefähr, dass die eindrucksvollsten Naturschilderungen nicht von Gutsherren, sondern von Stadtbewohnern stammen und den Don Juans, eine leidenschaftliche und tief empfundene Liebeslyrik selten gelingt. Oft kann man aus der Distanz mehr als aus der Nähe sehen.