Wissen

Der Ausspruch des weisen Sokrates: „Scio me nescire“, zu deutsch: „Ich weiß, dass ich nichts weiß“, wurde in ziemlich alle lateinischen Übungsbücher aufgenommen.

Der Ausspruch des weisen Sokrates: „Scio me nescire“, zu deutsch: „Ich weiß, dass ich nichts weiß“, wurde in ziemlich alle lateinischen Übungsbücher aufgenommen. Er eignet sich so herrlich, den Acei (den Akkusativ mit Infinitiv) einzuüben. So bleibt es nicht aus, dass zuweilen Schüler schon sehr bald Philosophen gegenüber, die mit ihnen komplizierten Überlegungen das ohnehin nicht einfache Latein noch komplizierter machen, Abneigung empfinden. Philosophensprüche langweilen entweder ungeheuer oder laden zu einer geistigen Höhenwanderung ein: auch einmal hoch hinaufzusteigen, um dann von ganz weit oben auf Wett und Menschen herabzusehen. 

Wo gibt es einen Altphilologen in der Welt, der sich beim „Scio me nescire" noch beherrschen kann? Nichts hält ihn davon ab, dass er mit seinen Quartanern eine philosophische Erstbesteigung unternimmt. Oben angelangt doziert er dann: der Gipfel aller Weisheit liege in der Erkenntnis, dass man überhaupt nichts wisse, dass man je weiser sei, je mehr man das begriffen habe; dass aus dieser Einsicht wahre Demut spreche!

Woher will er das wissen? Vielleicht war Sokrates sehr stolz darauf, dass er im Unterschied zu den vielen Dummen von sich sagen konnte, er wisse, während andere nicht einmal das wissen, dass er nichts weiß? Sollte man Erkenntnisse dieser Art nicht aus Klugheitsgründen ganz für sich behalten? War er sich über die psychologischen Folgen seines Ausspruchs klar? Könnte da nicht einer folgern: Wenn oben auf dem Gipfel doch nur dichter Nebel herrscht, wenn es sowieso keinen Ausblick gibt, wenn man am Ende doch nichts wissen kann, was sollen dann die Aufstiegsmühen? Mir scheint, Herr Sokrates war in höchstem Maße unvorsichtig! Er hat sich dem Missverständnis ausgesetzt, das Streben nach der Weisheit habe keinen Sinn.


P. Walter Rupp, SJ