Versuchungen

Jeder sollte, sooft er in eine Versuchung gerät, kühlen Kopf behalten und sich nüchtern fragen, weshalb sich diese Versuchung an ihn heranmacht, wo es doch noch viele andere Menschen gibt? Und warum sie ihn gerade jetzt heimsucht, wo er sich in einer Krise befindet, voller Unruhe ist und sie in diesem Augenblick nicht brauchen kann?  

Versuchungen sind – das sollten wir uns stets vor Augen halten - ausgezeichnete Menschenkenner. Sie kommen viel herum und lernen dabei querdurch die verschiedensten Menschentypen kennen: biedere, zwielichtige und ursolide, kriminelle, sozial engagierte und die angesehensten Persönlichkeiten. Versuchungen verfügen über den wohl reichsten Erfahrungsschatz und verstehen sich wie sonst kein anderer darauf, jemandem etwas auszureden oder einzuflüstern. 

Lassen Sie sich Zeit und schicken Sie eine Versuchung nie gleich weg! Vielleicht wurde Sie bei einem anderen eben herausgeworfen und kommt zu Ihnen in der Hoffnung, dass sie aufgenommen wird? Vielleicht ist sie schon seit Jahren erfolglos unterwegs? 

Klären Sie bei ihrer Ankunft, was sie von Ihnen will? Es gibt Versuchungen, die obdachlos geworden sind und deshalb keine Aufnahme finden, weil sie einen, der auf die schiefe Bahn geraten ist, für eine andere Lebensweise gewinnen und überreden möchten, dass er sich für eine edle Sache einsetzt, dass er endlich anfängt, sinnvoll, bewusst und zielstrebig zu leben.

Die Versuchungen, die zum Guten verführen wollen, haben es besonders schwer: Sie werden von ihren Kolleginnen, die zum Bösen verführen möchten, als Utopisten angesehen und ausgelacht, und von den Menschen gemieden, bei denen sie für das Gute werben. Es ist darum nicht verwunderlich, dass die Versuchungen zum Guten enttäuscht und eingeschüchtert sind und sich nur noch selten rühren.