Poesie

Schon im alten Babylon wurde die Klage erhoben, alle poetischen Themen seien schon verbraucht.

Schon im alten Babylon wurde die Klage erhoben, alle poetischen Themen seien schon verbraucht. Es sei vielleicht bald nicht mehr möglich, noch ein poetisches Thema zu finden. 

Diese Befürchtung hat sich als falsch erwiesen. Die Poeten haben seit der babylonischen Zeit, eine erstaunliche Anzahl neuer und großer Werke hervorgebracht. Die Literatur ist so angewachsen, dass die Bibliotheken und Archive überquellen. Für die Befürchtung, dass es eines Tages einen Themennotstand geben könnte, dass nur noch Wiederholungen möglich sind, gibt es keinen Grund. 

Es gibt in der Literatur wohl kein Thema, das noch nie aufgegriffen wurde. Die Themen Liebe, Gerechtigkeit und Glück, die Themen Sehnsucht, Leid und Schuld, werden immer Themen sein, die Poeten zur Gestaltung reizen. Das total neue Thema gibt es nicht. Alles wurde schon einmal gedacht. Goethe bemerkt dazu in seinen Maximen und Reflexionen: „Alles Gescheite ist schon gedacht worden.“ Der Poet kann nur versuchen, dem eine neue Form zu geben.
Er greift zu dem, was die Menschen immer bewegte und bewegt und tut oft weiter nichts weiter, als schlummernde Gedanken, zu wecken oder aufzuschrecken. Weil aber jeder dieselbe Erkenntnis anders verarbeitet und dasselbe Erlebnis auf eine andere und seine Weise erlebt, kommt etwas anderes dabei heraus.

Die Literatur wird mit den alten Themen nie an ein Ende kommen, weil es nicht möglich ist, ein Thema auszuschöpfen. Auch wenn der Dichter das, was schon einmal gedacht wurde, noch einmal denkt, bleibt ihm ein weiter Gestaltungsspielraum. 

In der Poesie geht es nicht darum, Neues zu entdecken, sondern um die neue Sicht. Dasselbe Goethe- oder Shakespearestück bekommt darum auf jeder Bühne, derselbe Romanstoff durch jeden Autor ein anderes Gesicht.


P. Walter Rupp, SJ