Gedankenwege

Wahrscheinlich gibt es keinen einzigen Gedanken, den nicht schon irgendeiner irgendwann einmal gedacht hat.

Wahrscheinlich gibt es keinen einzigen Gedanken, den nicht schon irgendeiner irgendwann einmal gedacht hat. Wir Menschen sind nicht so originell, wie wir sein möchten oder vorgeben. Georg Christoph Lichtenberg, der nun wirklich kreativ war und neben zahlreichen Schriften eine Fülle geistreicher Aphorismen publizierte, beschreibt das Entstehen von Gedanken so: „Einer zeugt den Gedanken, der andere hebt ihn aus der Taufe, der dritte zeugt Kinder mit ihm, der vierte besucht ihn am Sterbebett, und der fünfte begräbt ihn.“ Er vergaß, neben diesen fünf, den sechsten zu erwähnen: Er gräbt Gedanken, die schon vor langer Zeit beerdigt wurden und schon am Verwesen waren, wieder aus, reinigt sie von ihrem Modergeruch und Fäulnisresten und haucht ihnen wieder Leben ein. 

Bis in unsere Zeit hinein versuchen Schriftsteller, Wissenschaftler oder Publizisten immer wieder neu, Gedanken, die sie nicht selbst gezeugt haben, die irgendwo im Schutt der Jahrhunderte oder in Bibliotheken oder Archiven am Vergammeln waren, hervor zu zerren und so herzurichten, dass man ihnen ihr Alter nicht mehr ansieht, und auch nicht ansieht, dass sie eben erst reanimiert und ins Leben zurückgeholt worden sind. 

Es ist erstaunlich, wie leicht man bereits verstorbene Gedanken wieder lebendig machen kann. Gedanken sind nicht tot zu kriegen, weil der Geist nicht altert. Er ist fähig, Vergangenheit und Gegenwart – wie weit sie auch auseinander liegen - miteinander zu verbinden.


P. Walter Rupp, SJ