Selbsterkenntnis

Viele scheinen sich zu kennen und genau vorauszusehen, wie sie sich in welcher Lage tatsächlich verhielten

Man kann sich nur immer wieder wundern, mit welcher Sicherheit so viele Leute auf die Frage eine Antwort geben: Was sie tun würden, wenn...? Wenn sie zum Beispiel das große Los gewännen oder wenn sie eine schwere Krankheit durchstehen müssten? Und mancher glaubt - ohne den geringsten Zweifel - er hätte in einer Diktatur selbstverständlich heftigst Widerstand geleistet.

Viele scheinen sich zu kennen und genau vorauszusehen, wie sie sich in welcher Lage tatsächlich verhielten: als Firmenchef, als Arzt, als Lehrer oder Pfarrer; was sie täten, wären sie Slumbewohner oder Ölscheich; hätten sie die Möglichkeit, mit ihrem Leben noch einmal von vorne anzufangen, oder wären sie in einem anderen Jahrhundert auf die Welt gekommen. 

Auf Fragen dieser Art lässt sich keine klare Antwort geben, weil sie von zu vielen Wenn und Aber abhängig sind und sich auf Annahmen stützen, die sich nicht begründen lassen. Wer darf von sich behaupten, er wüsste sicher, dass er das Geld, das ihm plötzlich ein Glücksfall schenkt, nicht für sich verwenden, sondern Bedürftigen schenken würde. Niemand kennt sich wirklich! Niemand hat sich so durchschaut, dass er in der Lage wäre, über sein mögliches Verhalten Aussagen zu machen. Man kennt sich nicht, auch wenn man täglich mit sich Umgang hat.

Ein Heiliger, Philipp Neri, war sich seiner Sache nicht so sicher. Auf die Frage, was er täte, wenn man ihn vor die Alternative stellen würde, zu sündigen oder sein Leben herzugeben, drückte er sich auffallend vorsichtig aus und gab darauf zur Antwort: „Was ich zu tun hätte, weiß ich! Was ich jedoch tun würde, weiß ich nicht!“

Auch in einem Heiligen bleibt ein Rest des Bösen, mit dem er zeitlebens nicht fertig wird, und in jedem Verbrecher ein Hang zum Guten, der sich gelegentlich einmal regt. Wir Menschen bleiben bis an unser Lebensende nach beiden Seiten hin entwicklungsfähig. Aber niemand kann wirklich wissen, wozu er wirklich fähig ist, welchen Belastungen er standhalten kann und welchen er erliegt. Das Wissen um das, was gut und recht ist, ist noch keine Garantie, dass man auch recht handeln kann, wenn man gefordert wird. Denn dafür reicht der Kopf nicht aus, dafür bedarf es einer starken Seele. 


P. Walter Rupp, SJ