Entwicklung

Auch in der Geistesgeschichte herrscht das Gesetz der Evolution:

Was für die Materie gilt, gilt gleicher Weise für den Geist. So wie die Welt nicht fix und fertig aus den Händen Gottes hervorgegangen ist und die Lebewesen sich über Jahr-Millionen allmählich entwickelt haben, wachsen auch Erkenntnisse in einem langwierigen Prozess, der sich über Generationen erstreckt. Auch in der Geistesgeschichte herrscht das Gesetz der Evolution: höhere Einsichten sind - wie das Auftreten höherer Lebewesen – immer erst möglich, wenn die Vorbedingungen für ihre Entfaltung gesichert sind. Die großen Wahrheiten, auch die wissenschaftlichen Erkenntnisse sind nicht plötzlich da, sie überfallen den Menschen nicht, sondern wachsen, wenn der Boden dafür aufbereitet ist. Oft dauert es Jahrtausende, bis aus einer dunklen Ahnung eine gesicherte Erkenntnis wird. 

Die großen Werke Bruckners oder Mozarts, die Philosophien eines Hegel oder Kant, auch die naturwissenschaftlichen Einsichten eines Einstein wären nicht tausend Jahre früher möglich gewesen, weil die Voraussetzungen dafür noch nicht gegeben waren. Auch Jesus wäre, wäre er Jahrhunderte früher aufgetreten und vor der Zeit gekommen, nicht verstanden worden.

Man schmälert die Bedeutung Jesu nicht, wenn man feststellt: dass auch das, was er verkündigt hat, nicht total neu war; dass auch er oft Gedanken aufgegriffen hat, über die vor ihm andere gesprochen hatten. - Er knüpfte in seiner Verkündigung gern an Bekanntes an. Er nahm Bausteine aus den Steinbrüchen des Alten Testamentes und formte daraus etwas Neues. Und er erwartet, dass auch seine Nachfolger daran weiterbauen, und seine Worte nicht nur wiederholen, sondern für die Menschen einer anderen Zeit, mit anderen Fragen und Problemen, immer wieder neu formulieren.


P. Walter Rupp, SJ