Das Schicksal

Nun, die Behauptung, das Schicksal fordere die Züchtigung des Dieners, darf man als unbegründet und herbeigeholt betrachten

Zenon von Cypern - der um 300 vor Christus lehrte und als Gründer der stoischen Philosophie gilt - glaubte an das Walten eines Schicksals, das übermächtig ist. Er vertrat die Ansicht: der Mensch sei nicht frei. Alle Handlungen seien vorherbestimmt. Es bleibe dem Menschen darum gar nichts anderes übrig, als sich seinem Schicksal zu unterwerfen. Wenn das so wäre, dass letztlich ein Schicksal den Verlauf der Menschheitsgeschichte bestimmt, wären wir Menschen Marionetten; dann dürfte niemand mehr für seine Taten zur Rechenschaft gezogen werden; dann wäre das Leben, weil es keine Verantwortung gäbe, bequem. 

So dachte wohl ein Diener Zenons, der an der Lehre seines Herrn Gefallen fand. Als er bei einem Diebstahl ertappt wurde und dafür gezüchtigt werden sollte, berief er sich auf das Schicksal und schrie: „Ich bin nicht verantwortlich! Ich musste stehlen! Mein Schicksal hat es so gewollt!“

Zenon, der ein scharfsinniger, ja spitzfindiger Denker war, und die Kunst der Dialektik, die er erfunden hatte, auch beherrschte, wurde durch diesen Einwand nicht in Verlegenheit gebracht. Er ließ sich nicht umstimmen und erwiderte: „Du hast wohl recht! Aber das Schicksal will nicht nur, dass du stiehlst, es will auch, dass du nachher gezüchtigt wirst!“

Nun, die Behauptung, das Schicksal fordere die Züchtigung des Dieners, darf man als unbegründet und herbeigeholt betrachten, denn es hat sich dazu nicht geäußert. Vielleicht wäre es dem Schicksal lieber gewesen, Zenon hätte sich in dieser Situation als echter Stoiker bewährt, Gleichmut gezeigt und diesen Diebstahl apathisch hingenommen, ohne dagegen aufzubegehren. 

Zenon war in diesem Falle nicht konsequent. Er blieb nicht gelassen, er unterwarf sich nicht und stellte sich damit gegen seine Philosophie. Wohl deshalb, weil er spürte, dass er nicht tatenlos zusehen darf, dass Unrecht geschieht. Wenn sich das Schicksal zudem so widersprüchlich verhält - zuerst zu Untaten anstiftet und dann Genugtuung verlangt - ist nicht einzusehen, dass der wehrlose Mensch dafür gerade stehen soll. Dann sollte das Schicksal auch bereit sein, die Prügel dafür hinzunehmen.

Zenon erging es wie so manchem anderen Denker: Er hatte sich in eine Theorie verliebt, ohne zu prüfen, ob sie im praktischen Leben anwendbar ist. Und er musste die Erfahrung machen, dass sich seine eigenen Gefühle gegen die Gedanken sträubten, die sein Gehirn ausgebrütet hatte.


P. Walter Rupp, SJ