Der Verstand

Es ist ein weit verbreiteter Irrtum zu glauben, der Verstand sei immer vernünftig und urteile nüchtern

Gott gab uns den Verstand. Aber er versäumte es, uns auch eine Gebrauchsanweisung dazu mitzugeben. Denn der Verstand ist doch ein eigenwilliger, komplizierter und störanfälliger Gebrauchsgegenstand, ein Instrument, das nicht jeder zu handhaben versteht. Täglich kann man ja sehen, was dabei so alles an unsinnigen Entscheidungen herauskommt, wenn jeder sich auf seinen Verstand verlässt. 

Es ist ein weit verbreiteter Irrtum zu glauben, der Verstand sei immer vernünftig und urteile nüchtern, je nach dem Gewicht der Argumente. Der Verstand hat manche negative Eigenschaften: Wenn er ein Argument nicht mag, sucht er oft so lange nach Gründen, wie er es verwerfen kann. Er ist nur selten vom Gefühl der Zuneigung oder Abneigung frei und kann auch Launen und kindische Trotzreaktionen zeigen. Er kann hochmütig und eitel sein, dann setzt er sich über die Wahrheit hinweg. Oft tut er so, als denke er allein. Und oft vergisst er, dass das, was er nicht wissen kann, weit mehr ist als das, was er weiß. Leider neigt er auch zur Faulheit. Bei schwierigen Gedankengängen schert er aus und plappert nach, was man eben gerne hört. 

Vor dem Einschalten des Verstandes nehme man sich Zeit und warte, bis die Gehirnzellen abkühlen und die richtige Temperatur erreichen. Ist sie zu niedrig, dann fallen die Argumente schwammig und nicht überzeugend aus. Ist sie zu hoch, neigt der Verstand zu Übertreibungen und gefährlichen Attacken und rennt im Übermut gegen Vernunftgründe an. Man muss den Verstand oft zügeln, dass er sich der Vernunft unterordnet.


P. Walter Rupp, SJ