Erwartungen

Diese Erwartung: Die Wissenschaft werde bald eine Krankheit nach der anderen besiegen, vielleicht sogar den Tod, regt sich noch immer.

Als die Brüder Montgolfier 1783 zu ihrem ersten Ballonflug aufgestiegen waren und nach einer Höhe von 2000 Metern wieder wohlbehalten auf der Erde landen konnten, brachen die Zuschauer in einen unbeschreiblichen Jubel aus, fielen sich in die Arme und meinten: man werde bald auch noch das Mittel finden, mit dem man schließlich den Tod besiegt. Diese Erwartung: Die Wissenschaft werde bald eine Krankheit nach der anderen besiegen, vielleicht sogar den Tod, regt sich noch immer. 

Studiert man aufmerksam die Annoncen unserer Medien, so kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass so ziemlich jede Krankheit, auch ohne die Hilfe eines Arztes, allein mit einem pharmazeutischen Präparat vertrieben werden kann, ja dass es kaum seelische Nöte oder körperliche Gebrechen gibt, denen nicht sofort und wirksam - zum Spottpreis von nur einigen Euro - beizukommen wäre. Erfolglosigkeit, Minderwertigkeits-komplexe, Kontaktarmut, Hemmungen und Liebeskummer - mögen sie wem immer schon seit Jahren schwer zu schaffen machen - sie sind frappierend leicht zu heilen. Man nehme das von Dr. Kauz in langjähriger Erprobung und auf wissenschaftlicher Grundlage entwickelte ‘Anti-Komplex’, ‘Anti-Depressiv’ oder das ‘Kontakt-Hormon K’, das schon so vielen - wie die überaus zahlreichen Zuschriften beweisen - aus ihrer verzweifelten Lage herausgeholfen hat. 

Versprechen dieser Art kann niemand halten. Wie enorm die Fortschritte der Pharmazie auch sind, wie unübersehbar die Zahl der Präparate ist, die sie anzubieten hat, das Medikament, das gegen jede Krankheit hilft und jeden Kranken heilt, ist nicht darunter. Es wird auch nie gefunden werden. 

Dieser Glaube, die Medizin sei irgendwann einmal so weit, jedes Gebrechen zu heilen, ja sogar alle Krankheiten auszurotten, ist eine Illusion. Es wird ihr nie gelingen, die Menschen so gesund zu machen, dass sie bei voller Gesundheit sterben oder nicht mehr sterben müssen. Das liegt nicht im Plan der Natur. Die Medizin wird auch in Zukunft keine Naturgesetze aufheben können. Zu unserem Glück: Denn Nicht-Sterben-Müssen wäre kein Gewinn. Wir wären dann verurteilt, immer hier, in einer Welt zu sein, die unfähig ist, unsere wahren Wünsche zu erfüllen, und nicht bieten kann, was uns wirklich glücklich macht.


P. Walter Rupp, SJ