Zuviel

Kunst besteht im Wegnehmen.

Michelangelo, der italienischer Maler, Bildhauer, Architekt und Dichter, einer der bedeutendsten Künstler der italienischen Hochrenaissance, erklärte gewöhnlich, wenn er für eine großartige bildhauerische Leistung gelobt wurde: er habe ja nur das ‘Zuviel‘ von einem Marmorblock weggeklopft.

Kunst besteht im Wegnehmen. Das gilt für jede Kunst: nicht nur für die Bildhauerei, auch für das Malen, Komponieren oder Dichten. Der Stoff für das Gestalten ist schon da und zwar in Überfülle: die Steine und das Holz, aus denen der Bildhauer eine Statue formt; die Farben, die der Maler für sein Gemälde gebrauchen will; die Töne, mit denen der Komponist eine Symphonie komponieren und die Wörter, mit denen der Schriftsteller Romane oder Gedichte schreiben möchte. Überall liegt reichlich Stoff herum. Der Künstler muss ihn nur aufspüren und bearbeiten. Der Künstler ist kein Schöpfer, der etwas aus dem Nichts hervorbringt. Er kann zu dem, was Gott geschaffen hat, nichts hinzufügen. Er kann es nur formen und gestalten. 

Auch die Lebenskunst besteht im Weglassen. Das Leben gelingt oft nicht, weil wir meinen, wir müssten das Leben auskosten und immer noch mehr erwerben und noch mehr erleben. Das ‘Zuviel‘ wird so für die Zufriedenheit zum Hindernis. Man muss auch im Leben von dem ‘Zuviel‘ das, was sich nicht zu sehen, zu hören oder zu erleben lohnt, wegnehmen. Das Weniger, das man genießen, an dem man sich erfreuen kann, ist oft mehr als all die vielen Dinge, die man nur erhascht.


P. Walter Rupp, SJ