Gleichnisse

Bei manchem Gleichnis Jesu ist man versucht, es umzuformen, weil es auf die Situation von heute nicht mehr passt.

Bei manchem Gleichnis Jesu ist man versucht, es umzuformen, weil es auf die Situation von heute nicht mehr passt. Wenn Jesus zum Beispiel davon spricht, dass der Hirte, der hundert Schafe hat, dem einen davongelaufenen Schaf nachlaufen soll, um es zurückzuholen, dann muss man doch einwenden: wäre es bloß so, dass von hundert Schafen nur eines davonläuft. Heute laufen doch von den hundert Schafen neunundneunzig in die verschiedenen Richtungen davon und nur ein Schaf bleibt zurück. 

Der Hirte von heute steht vor der Frage: Wem von den neunundneunzig Schafen soll ich zuerst nachlaufen? Den jungen Schafen, die geflohen sind, weil sie etwas gegen das Mittrotten in einer Herde haben und sich auf einer Weide frei bewegen möchten? Den verängstigten Schafen, die damit nicht fertig werden, dass sie irgendwann einmal von einem nervös gewordenen Hirtenhund gebissen worden sind? Den intellektuellen Schafen, die nicht wahrhaben möchten, dass auch sie Schafe sind und sich verirren können. Den misstrauischen Schafen, die nicht glauben können, dass der Hirte die fruchtbaren Weideplätze kennt? Den naiven Schafen, die daran zweifeln, dass sie, allein auf sich gestellt, den Wölfen wehrlos ausgeliefert sind? Oder den vielen, denen das Gras nicht schmeckt?

Auf eine Frage, auf die das Gleichnis von den Schafen nicht eingeht, hätten wir Heutigen gern eine Antwort: Wie soll sich eine Herde verhalten, wenn der Hirte davonläuft und die Herde sich selbst überlässt?


P. Walter Rupp, SJ