Die beiden Jesusse

Auf einem ökumenischen Kirchentag lernte Jesus von Nazareth den entmythologisierten Jesus kennen,...

Auf einem ökumenischen Kirchentag lernte Jesus von Nazareth den entmythologisierten Jesus kennen, der von einer theologischen Fakultät gezeugt und aufgezogen worden war, und nach seiner Promotion zum Dr. theol. von sich behauptete, er habe eine andere als die ihm zugeschriebene Biographie, da gäbe es, was man ihm an Worten oder Taten nachsage, einiges zu korrigieren. Er sei nie in Bethlehem gewesen, habe nie Brot vermehrt und seine Jünger nie eine zur Gründung einer Kirche aufgefordert. Sein Grab sei auch nie leer gewesen. Er habe sich auch nie Gottes Sohn genannt. Der erhöhte Christus sei eine paulinische Erfindung.  

Jesus von Nazareth hörte erstaunt zu und fragte ihn: Warum trittst Du dann mit dem Namen ‘Jesus‘ auf? Warum erklärst Du den Kirchentagsteilnehmern meine Worte nicht wie ich sie verstanden habe, sondern wie ich sie heute zu verstehen hätte? Ich habe meinen Jüngern aufgetragen, dass kein Jota vergehen soll! 

Der entmythologisierte Jesus wunderte sich darüber und gab zur Antwort: Nicht ich, die Wissenschaft hat nachgewiesen, dass Du manche Deiner Worte gar nicht gesagt haben kannst. Außerdem sollte der heutige Prediger die Erkenntnisse moderner Pastoral zur Kenntnis nehmen, dass nur der gehört wird, der es versteht, seine Worte an das Denken seiner Zeit anzupassen. Du hast Deine Worte an die Menschen Deiner Zeit gerichtet. Ich verkünde sie für die Menschen unserer Zeit.

Darauf entgegnete ihm Jesus von Nazareth: Ich habe meine Worte nicht für meine, sondern auch für Deine Zeit gesprochen. Meine Worte bleiben meine Worte. Versuche nicht aus meinen Worten Deine Worte, oder aus Deinen Worten meine Worte zu machen. Erkläre nicht, was Du nicht verstanden hast, zum Mythos und unterlasse es, Dich als ‘entmythologisierten Jesus‘ zu bezeichnen. Es gibt keine zwei Jesusse: den historischen und den ganz anderen. Ich bin der ich bin. Du bist ein Geschöpf, das ein Exeget beim Fremdgehen gezeugt hat.


P. Walter Rupp, SJ