Ochs und Esel

Wahrscheinlich standen an der Krippe von Bethlehem weder ein Ochs noch ein Esel.

Wahrscheinlich standen an der Krippe von Bethlehem weder ein Ochs noch ein Esel. Denn die Künstler wollten die Weihnachtsgeschichte ausschmücken und nicht nacherzählen. Sie ließen darum auf ihren Darstellungen, auf denen es von neugierigen Menschen und Tieren nur so wimmelt, ihrer Phantasie freien Lauf. Ochs und Esel sind eine Erfindung: Beide stehen stellvertretend für zwei Menschentypen: für den Gläubigen, der in seiner Beschränktheit, die er trotz seines Glaubens nicht ablegen kann, dem stumpfsinnige Ochsen gleicht, und für den Heiden, der sich in seiner Verstocktheit oft wie ein bockiger Esel verhält.  

Auf witzige Art und Weise wird der Gläubige, der sich gern für erleuchtet hält und einbildet, er stehe Gott näher als die vielen anderen, die noch nicht zum Glauben gekommen sind, daran erinnert, dass er auch als Glaubender ein Nichtwissender bleibt, und der Nicht-Gläubige, der sich gern auf die Wissenschaft, auf die Vernunft oder seine Gelehrsamkeit beruft und über die naiven Gläubigen erhebt, dass er sich vor dieser Einbildung hüten soll. 

So wie es töricht wäre, darüber zu streiten, ob ein Ochs gescheiter als ein Esel ist, wäre es töricht, seinen Geist damit zu verschwenden, ob nun die Gläubigen den Ungläubigen oder die Ungläubigen den Gläubigen geistig überlegen sind. Beide stehen vor einem Geheimnis und begreifen, wie der Ochs und wie der Esel, von dem, was Gott da gewirkt hat, so viel wie nichts, und im günstigen Fall nur wenig. 

Sooft ein Ungläubiger – wäre er auch Hochschullehrer, Wissenschaftler oder Nobelpreisträger – sich mit einem Gläubigen, der sogar den Doktor der Theologie erworben hat, in eine Diskussion über Glaubensfragen einlässt, ist das, als würde ein Ochs mit einem Esel streiten.


P. Walter Rupp, SJ