Versöhnt leben

27. Okt 2015

Die St. Gabrieler Vortragsreihe unter dem diesjährigen Motto „Barmherzigkeit, nicht Opfer“ startete mit einem gut besuchten Vortrag von Schwester Melanie Wolfers SDS

„Wir müssen aufhören, auf eine bessere Vergangenheit zu hoffen!“ Mit dieser und anderen markanten Aussagen gelang es der Buchautorin und Theologin Schwester Melanie Wolfers, die Zuhörerschaft zu fesseln und auf einen spannenden inneren Weg mitzunehmen. Ausgangspunkt ihrer Ausführungen war die Vision Jesu von einem versöhnten Miteinander. Diese Vision steht im Kontrast zu den seelischen Verwundungen, die Menschen im Laufe ihres Lebens erleiden. Oft reiche die alltägliche Versöhnungskultur nicht mehr aus, um mit diesen Verwundungen fertig zu werden, meinte Schwester Melanie. Darum wolle sie Schritte aufzeigen, die helfen Kränkungen zu überwinden und neu lebendig zu werden.

Eingangs traf Schwester Melanie eine wichtige Unterscheidung zwischen Vergebung und Versöhnung. Versöhnung braucht ein Gegenüber, das mitmacht. Sie geschieht zwischen Personen. Vergebung kann auch ohne die andere Person geschehen. Sie ist eine Entscheidung, die eine Person auch dann treffen kann, wenn eine andere Person schon verstorben ist oder wenn sie die Aussöhnung verweigert. In einer zweiten Vorbemerkung wies die Referentin darauf hin, dass Versöhnung immer ein Prozess, also ein längerer Weg sei. Eine einmalige Willensentscheidung genügt nicht. Wenn mir das klar ist, kann es mich entlasten, ich kann mir die nötige Zeit zugestehen und viele kleine innere Schritte machen.

Schritte zur Aussöhnung

Als ersten Schritt empfahl Schwester Melanie, sich bewusst der Verletzung oder Kränkung zuzuwenden und sich mutig und ehrlich daran zu erinnern. Vielleicht geht es zuerst um das Eingestehen eigener Begrenztheit und Schwäche, um Scham und verminderten Selbstwert. Diese Empfindungen müssen ehrlich auf den Tisch gelegt werden. Wenn ein Mensch das betend tut, ist er dabei nicht allein. Es tut gut, die Kränkung im Licht der Gegenwart Gottes anzuschauen, auch wenn dabei ein Fluchpsalm über die Lippen kommt. Schwester Melanie zitierte in diesem Zusammenhang Martin Luther, der einmal gesagt hat: „Darauf kommt es im Gebet an: Dass du wenigstens dort nicht lügst.“ Aggression und Ärger dürfen nicht runtergeschluckt werden, weil sie sonst innerlich weiter nagen. Es gilt, die eigene Wut in ihrer Vielschichtigkeit freizulegen. „Nur wenn die Entrüstung zugelassen wird, kann auch Abrüstung geschehen“, ist Schwester Melanie überzeugt.

Einen realistischen Blick bekommen

Ein nächster wichtiger Schritt ist, Abstand zu gewinnen von starken Gefühlen, die zu einem „Tunnelblick“ führen. Da kommt es schnell zu Schuldzuweisungen. Was hilft, zu einer realistischen Sicht zu kommen? Wesentlich ist ein unvoreingenommener Blick auf die andere Person. Dabei helfen Fragen wie: Was hatte sie für Gründe? Diese könnten in einem Gespräch mit der Person geklärt werden. Wie ging es der anderen Person zu dem Zeitpunkt, als sie mich verletzte? War es Gedankenlosigkeit, ein Missverständnis? Heilsam sei, die andere Person mit den Augen Gottes zu sehen, meinte Schwester Melanie. Der kleine Prinz habe schon recht: Man sieht nur mit dem Herzen gut! Alle sind wir Teil einer größeren Wirklichkeit. Bei Matthäus steht ja: Gott lässt es regnen über Gute und Böse.
Nach dem Blick auf den anderen ist ein Blick auf mich selbst wichtig. War ich rechthaberisch, und nun leide ich unter den eigenen Fehlern? Hatte ich zu große oder falsche Erwartungen? Habe ich rechtzeitig Grenzen gezogen? Oder war ich zu gutmütig aus Angst, aus Konfliktscheu oder Bequemlichkeit?

Wir tragen schwer am Nachtragen!

Ein weiterer wichtiger Schritt ist der Entschluss zu vergeben. Es ist notwendig, sich zum Frieden zu entschließen. Was hilft dazu? Eine Hilfe ist, sich daran zu erinnern, wie einem selbst das Geschenk der Vergebung zu Teil wurde. In diesem Zusammenhang erinnerte Schwester Melanie an das Gleichnis vom Barmherzigen Vater im Lukasevangelium, das für sie „die Essenz des Gottesbildes Jesu“ darstelle. Vergangenes sei zu verabschieden. „Wir müssen aufhören, auf eine bessere Vergangenheit zu hoffen“, meinte die Vortragende und fügte hinzu: „Wir tragen schwer am Nachtragen!“ Zudem gelte: Wenn wir uns nicht abwenden können von dem, was hinter uns liegt, erstarren wir wie die Frau des Lot zur Salzsäule.
Aber wie kann die Vergangenheit verabschiedet werden? Schwester Melanie ermutigte zur Trauer. „Wenn wir trauern und klagen können, sind wir auf dem Weg der Heilung“, sagte sie. Trauern bedeutet Akzeptieren, Vergeben bedeutet neu nach vorne leben. Ganz entscheidend sei, herauszufinden aus der lähmenden Opferrolle. Desmond Tutu hat nach Jahren der Haft den Tätern vergeben, denn er wollte nicht länger an sie gefesselt sein.

Das Christentum ist eine therapeutische Religion

Ist ein spirituelles Fundament notwendig zum Vergeben? Für Schwester Melanie braucht Vergebung Engagement, aber zugleich ist sie ein Geschenk. Gläubige Menschen dürfen aus dem Bewusstsein für ein „Mehr“ leben, für einen „größeren Zusammenhang, der Liebe heißt“. Sie können sich diesem größeren Geschehen anvertrauen. Dann „geschieht es“, weil ich vertraue: „Wo ich nicht weiter komme, ist Gott noch längst nicht am Ende!“
Melanie Wolfers zeigte sich überzeugt, dass das Christentum im Grunde eine therapeutische Religion sei. Für sie ist Jesus ein Salvator, ein Heiler. Und: „Jesus hat eine ansteckende Gesundheit!“ Darauf dürfen gläubige Menschen vertrauen.

Franz Helm SVD

Zur Vertiefung:

Melanie Wolfers, Die Kraft des Vergebens. Wie wir Kränkungen überwinden und neu lebendig werden. Herder 2013.

Nächster Vortrag:

Den nächsten Abend in der St. Gabrieler Vortragsreihe „Barmherzigkeit, nicht Opfer“ bestreitet Pater Franz Helm am Dienstag, den 10. November, um 19:30 zum Thema „Für eine arme und dienende Kirche. Zum Jubiläum ‚50 Jahre Katakombenpakt‘“. Herzliche Einladung!