Der Missionar mit dem Geigenkasten

12. Okt 2010

Bolivien/ Deutschland - Severin Parzinger aus Bayern war für 20 Monate als "Missionar auf Zeit" in Bolivien. Verknüpft hat er seinen Einsatz mit seiner großen Leidenschaft: Der Musik.

Am Flughafen in Madrid ist Severin Parzinger wieder voll und ganz in der europäischen Wirklichkeit angekommen. Deutsche Pauschaltouristen beklagen sich am Terminal über eine zwanzigminütige Verspätung des Fliegers. Anderthalb Flugstunden entfernt wartet bereits die immer wiederkehrende Frage: "Und? Wie war's?" Überall wollten Freunde, Verwandte und Bekannte wissen, welches Fazit er aus den vergangenen 20 Monaten Bolivien gezogen habe. "Ich bin dann immer etwas überfordert", sagt der 21-Jährige aus Bergen im Chiemgau. "Freilich könnte ich antworten, dass es super war, oder "total schön". Aber im Grund ist es schlichtweg unmöglich, die vergangenen zwei Jahre in wenigen Worten zusammenzufassen."  

Soviel steht fest: Severins Einsatz als "Missionar auf Zeit" (MaZ) war ein Erlebnis, das ihn entscheidend geprägt, durchgerüttelt, verändert hat. Von einem "unfassbar großen Schatz vieler Eindrücke" spricht er, von einem Erlebnis, das zu umfangreich sei, um es auf einen knappen Punkt zu bringen. Entsprechend schwer fällt es dem jungen Mann aus Bayern noch immer, mit dem Erlebten abzuschließen. Severin irrt durch den deutschen Alltag wie ein orientierungsloser Schlafwandler. "Es ist seltsam, nach so langer Zeit in einem weit entfernten Land und einer völlig anderen Kultur wieder zurück nach Hause zu kommen, wo alles ganz anders ist, und gleichzeitig altbekannt", sagt er.  

In Gedanken ist Severin immer noch sehr häufig in San Ignacio und San Miguel, an jenen beiden Orten, in denen er den größten Teil seines MaZ-Einsatzes zugebracht hat. Noch genau erinnert er sich an die erste, abenteuerliche Autofahrt aus der Millionenmetropole Santa Cruz in die Chiquitanía, eine Savannenregion im östlichen Bolivien. Weil aufständische Jugendliche eine wichtige Brücke blockieren, müssen Severin und zwei Steyler Missionare zunächst mit ihrem Wagen wieder in die Stadt zurückkehren und tagelang auf neues Benzin warten. Erst der dritte Anlauf zur Weiterreise klappt: Nach einer 16-stündigen Fahrt erreicht das Fahrzeug der Padres gegen ein Uhr nachts San Ignacio. "Ich hätte nie gedacht, dass in eine Straße so viele Schlaglöcher passen", sagt Severin. "Wenn man das überhaupt Straße nennen kann."  

In San Ignacio beginnt Severin mit Spanischunterricht, lernt nebenbei die Menschen der 2004 gegründeten 6000-Seelen-Gemeinde "Maria Asunta" kennen - ihren Alltag, ihre Mentalität, ihre vielen bunten Feste. Bald beginnt er, sich in der Alten- und Krankenpastoral der Pfarrei zu engagieren, besuchte mit Kleingruppen von Jugendlichen regelmäßig ältere Gemeindemitglieder. "Wir haben gemeinsam gebetet und gesungen, getrunken und gegessen", erinnert sich Severin. "Man merkte, wie dankbar die Leute für unsere Besuche waren. Einfach, weil sie jemanden zum Reden hatten."

Über seinen Internetblog hält Severin regelmäßig Kontakt zur Heimat, berichtet vom Dengue-Fieber, das ihm über Neujahr zu schaffen macht, von der Geburtstagstorte, mit der ihn die örtliche Messdienergruppe überrascht, vom ausgelassenen "Carnaval", den die Leute in Bolivien mit ausgelassenen Wasser- und Farbschlachten begehen. Schließlich davon, wie ein wertvoller Gegenstand aus seinem Reisegepäck endlich mehr und mehr zum Einsatz kommt: Seine Geige.

Seit der 4. Schulklasse ist Severin auf diesem Instrument zu Hause, er spielte im Jugendsinfonieorchester und bei "Jugend musiziert", war im Musik-Leistungskurs. Von Anfang an hatte er die Absicht, seinen Einsatz als "Missionar auf Zeit" unter ein musikalisches Motto zu stellen. Nun bietet sich die Gelegenheit: An der Musikschule im benachbarten San Miguel liegt der Unterricht brach. Severin wird gefragt, ob er Orchester und Chor übernehmen könne, an drei Nachmittagen in der Woche. Der junge Mann aus Deutschland zögert nicht lange, sagt zu und beginnt, die Instrumente wieder herzurichten.

Fortan kämpft Severin mit der mangelnden Probendisziplin der örtlichen Nachwuchs-Streicher. Denn nicht nur in San Miguel, sondern auch in der Musikgruppe von San Ignacio gibt Severin inzwischen den Takt an. Einzelunterricht, merkt Severin schnell, kennen und wollen seine Schüler nicht, ebenso wenig wie heimisches Üben am Instrument. Die Schüler sind kaum an selbstständiges Arbeiten gewöhnt, alle Proben müssen in der Gruppe erfolgen. "Aus deutscher Sicht eine totale Zeitverschwendung", sagt Severin schmunzelnd. "Aber so ist nun mal die Mentalität."  

Bald verbringt Severin jede freie Minute mit Musikproben, bis spät in die Nacht schreibt er Noten und fertigt Stimmauszüge. "Ich habe festgestellt, dass ich kein geborener Pädagoge bin", sagt Severin. "Dafür bin ich einfach zu ungeduldig und zu sehr Perfektionist. Trotzdem hat’s mir super Spaß gemacht mit den Kindern." Auch wenn ihn die Arbeit als "Musikmanager" manchmal vor kräftezehrende Herausforderungen stellt. Etwa, als auf dem Weg zu einem Weihnachtskonzert in Santa Ana der Reisebus mit 65 Musikschülern an Bord mitten im Nirgendwo eine Panne hat, weil die Hinterachse aus der Verankerung gebrochen ist. "Noch dazu war die Straße nicht besonders befahren, an Handyempfang war nicht zu denken", erinnert sich Severin. "Zum Glück kamen irgendwann die Eltern eines Schülers mit dem Auto an uns vorbei, holten uns Frühstück und organisierten einen Ersatzbus." Das für 8 Uhr morgens geplante Konzert holen die jungen Musiker um 11 Uhr nach.  

Die Teilnahme am Internationalen Barockmusikfestival wird zum Höhepunkt des musikalischen Auslandsaufenthalts von Severin Parzinger. "Ich fand es großartig, das erleben zu dürfen", sagt er. "Zum einen als Zuhörer der hochkarätigen, internationalen Ensembles, zum anderen als aktiver Teilnehmer mit der Streichergruppe von San Miguel." Mit seinen Schülern spielt Severin Kammersonaten von Corelli, aber auch Musik aus den ehemaligen Jesuitenreduktionen in der Chiquitanía sowie lokale Folklore - beides Musikrichtungen, die es ihm besonders angetan haben. "Unglaublich, welche tiefe Symbolkraft in dieser Musik lebt", sagt er. "Leider gibt es nur sehr wenig Interesse seitens der einheimischen Bevölkerung, diese Klänge zu dokumentieren. Sie sterben regelrecht aus." Ein Umstand, der Severin dazu bewegt, systematisch Tonaufnahmen der einheimischen Musik zu machen, um sie später als Notentext niederzuschreiben. "Die Aufnahmen waren allerdings schwieriger als gedacht", erklärt er. "Damit die meist betagten Musiker bereit waren, mir ihre Musikstücke vorzuspielen und ihr Wissen über die Instrumente preiszugeben, waren hochprozentige Getränke wie Whisky oder Schnaps nötig - zum "Anfeuchten" der Kehle. Leider waren meine Interviewpartner dann allerdings sehr schnell zu "munter", um noch richtig singen und spielen zu können."

Nichtsdestotrotz: Mit rund 100 aufgenommenen Liedern im Gepäck steigt Severin nach zwanzig Monaten im bolivianischen Tiefland wieder in den Flieger nach Deutschland. Schon während der Rückreise gehen ihm die vielen Kinder nicht aus dem Kopf, die ihm nach den Abschiedsfesten in San Miguel und San Ignacio am liebsten gar nicht mehr loslassen wollten. "Geh nicht", haben sie ihm nachgerufen. "Du musst bleiben, wir brauchen dich." Dass ihm der Abschied so schwer gefallen ist, sieht Severin als Zeugnis dafür, wie eng und intensiv die Bindungen sind, die er in seiner MaZ-Zeit knüpfen konnte. "Ich bin erfüllt von einer tiefen Dankbarkeit für alles, was ich erleben durfte", sagt er. "Ich habe so viel gelernt von den Leuten vor Ort, von ihrer Kultur, von ihrer Lebens- und Denkweise. Vor allem eines: Jeden Moment als besonderes, einmaliges Erlebnis zu genießen."

Markus Frädrich