„Unter den Talaren…“- Revolution hinter Klostermauern

09. Dez 2013

Minirock und Aufbruchsstimmung: Vor rund 50 Jahren veränderte die Studentenrevolution unsere Gesellschaft. Das neue Denken, das sie auslöste, machte dabei auch vor Klöstern nicht halt. Die 1960er Jahre: Eine wilde Zeit auch bei den Steyler Missionaren.

Tausende junge Menschen gehen auf die Straßen, demonstrieren gegen Vietnamkrieg, Atomkraft, gegen Spießer mit NS-Vergangenheit und verstaubte Wertevorstellungen. In Tumulten fliegen Steine auf Polizisten, Benno Ohnesorg wird erschossen. Rainer Langhans und Uschi Obermayer propagieren in der Kommune I. die sexuelle Freiheit, Frauen fordern Gleichberechtigung.
Während die Jugend in den 1960er Jahren protestiert, die Hippies „Love and Peace“ skandieren, muss Joachim Piepke ‚strafspülen‘. Er hat die Regeln gebrochen, die Regeln des strengen Klosterlebens – schon wieder.

Leben im Ghetto
Es ist Mitte der 60er Jahre, Joachim Piepke ist gerade Anfang 20. Der junge, schmächtige Frater mit der großen Brille und dem schwarzen Talar hat sich entschieden Steyler Missionar zu werden. Im Kloster St. Augustin studiert er Theologie und Philosophie, eingeschlossen hinter dicken Klostermauern. Jeder Schritt wird von den Oberen kontrolliert. „Das Kloster war völlig abgeriegelt von der Außenwelt – wir hatten weder Schlüssel noch Geld, Kontakt zur Umwelt war untersagt und wenn wir mal das Haus verließen, dann nur mit persönlicher Ab- und Anmeldung, in Talar und mit sichtbaren Kollar am Hals. Wir lebten in einem Ghetto, weit weg von den Menschen.“

Seelsorge durch den Kohlenkeller
Obwohl für ein Leben im Orden entschieden, möchten sich die jungen Männer nicht mehr dem herrschenden Klosterregime unterwerfen, sie möchten raus und Menschen helfen. Wenn es sein muss, auch ohne die Einwilligung der Oberen. Ein Jugendzentrum in Bonn wird ihr erster Anlaufpunkt – durch den Kohlekeller: „Ein flacher Hausklotz in einem berüchtigten Viertel von Bonn, Jugendliche, die in der Gesellschaft als ‚asozial‘ galten, das war unsere erste Wirkungsstätte“, erinnert sich Piepke. „Jede Nacht schlichen sich einige von uns durch das Kellerfenster. Wir bauten das leere Jugendzentrum aus, mit Kicker, mit Tischtennisplatten, einem Fotolabor, einem Tanzraum, wir übten mit den Jugendlichen Theaterstücke ein oder organisierten eine Zauberaufführung.“ Erlaubt war das nicht: Wurde einer der jungen Männer von den Oberen erwischt, gab es Strafspülen, oft ein paar Wochen lang. „Dass es sinnvoll wäre, hier schon einmal praktisch Seelsorge zu betreiben und unter Menschen zu gehen, bevor wir dies in einem fremden Land auf Mission tun, ging nicht in die Köpfe der Oberen.“

Streik und Austritte
Der Generationenkonflikt im Kloster schwillt weiter an – die jungen Mitbrüder provozieren immer häufiger ihre Vorgesetzten, ohne lange Haare und Batik-Hemden, dafür mit völliger Ignoranz gegenüber den Ordensregeln: „Wir sind in Streik getreten - wir haben uns nicht mehr vorschreiben lassen, was wir mit wem wo machen durften, welche Kleidung zu tragen war und was wir in unserem Studium lernen sollten“, erzählt Pater Piepke „Dozenten haben vor einem leeren Hörsaal Vorlesungen gehalten, weil wir einfach nicht mehr hingegangen sind. Diese vorsintflutliche Lehre war nicht mehr tragbar.“
Aber die ständigen Auseinandersetzungen und die revolutionäre Stimmung im Kloster fordern ihren Tribut: Viele Fratres halten dem Dauerdruck nicht mehr stand: Reihenweise treten sie aus dem Orden aus. Allein im Jahrgang von Joachim Piepke bleibt Ende der 60er Jahre nur noch ein Fünftel des Ordensnachwuchses bei den Missionaren, der Rest wendet den Kommunitäten frustriert den Rücken. „Wir hatten das Gefühl, die ganze Welt um uns verändert sich. Nicht nur die Studentenrevolution, auch das Vaticanum II läutete ein neues Zeitalter ein und bei uns blieb alles wie bei der Ordensgründung 1875“, so Piepke.

Kein „Muff“ mehr, unter den Talaren
Es sollte noch eine Weile dauern, bis die Klostermauern bröckelten. „Die Oberen sahen mittlerweile zwar, dass Veränderungen notwendig waren, wussten aber gleichzeitig, dass sie mit einer Neuordnung den Unmut der älteren Mitbrüder auf sich ziehen würden – das forderte viel Kraft“, sagt Piepke rückblickend. Nach und nach wurden die Dozenten, die sich den neuen Umständen nicht anpassen wollten, entlassen. Ein Talar trägt heute kein Steyler Missionar mehr und die Ausbildung hat sich komplett verändert: Wer nicht in die Seelsorge möchte, ist fehl am Platz. Das Kloster und die Hochschule haben sich zur Welt geöffnet. Joachim Piepke selbst wurde später Rektor der Philosophisch-Theologischen Hochschule St. Augustin und blieb es 15 Jahre. Bereut hat er seine Regelbrüche in den 60ern übrigens nie „Nur eines“, schmunzelt Piepke. „Ich hätte mich nicht so oft erwischen lassen dürfen, dann hätte jemand anderes gespült.“


Severina Bartonitschek