Wir können den Menschen keine „fertige Theologie“ überstülpen - Steyler "Mauergedanken" zum 50. Jahrestag des innerdeutschen Mauerbaus

09. Aug 2011

Am 13. August vor mittlerweile 50 Jahren begann die damalige DDR mit dem Mauerbau in Berlin. Grund genug für uns Steyler Missionare das Thema „Mauern“ einmal in den Blickpunkt zu nehmen. Was Mauern bedeuten und wie man sie überspringen oder einreißen kann, darüber unterhielt sich Tamara Häußler-Eisenmann mit Pater Fabian Conrad, Missionssekretär der Steyler Missionare in Deutschland, der viele Jahre als Missionar in Kanada verbracht hat.

Neben Mauern des Schweigens, Mauern in den Köpfen gibt es auch ganz reale. Ich denke da an den Grenzwall in Israel, den Zaun zwischen den USA und Mexiko, aber auch eine unendlich lange Mauer in Rio de Janeiro, die die Reichen von den Armen trennen soll. Was bezwecken Mauern?
Diese Mauern bezwecken Trennung und Entfremdung. Diese Menschen haben Angst voreinander. Diese Mauern werden Trennlinien.


Sind Mauern eine Möglichkeit, Frieden zu schaffen, wenn Opfer und Aggressor voneinander getrennt werden?
Friedensstiftend sind Mauern nicht. Sie sind ein Behelfsmittel, um einen relativen Frieden für eine bestimmte Zeit zu errichten. Sie beheben ja das Problem der Trennung nicht wirklich. Es wird nicht an der Wurzel geheilt. Der Frieden wird nicht aufgebaut. Es wird nur eine Mauer gezogen, damit der Krieg nicht ausbrechen kann, aber die Aggressionen bleiben. Das Begehren bleibt. Die Angst bleibt.


Es gibt einen Psalm, den Sie sicherlich kennen. Mit meinem Gott kann ich über Mauern springen. Wie soll das funktionieren?

Die Psalmen sind ja sozusagen das Gebetbuch unserer heiligen Schrift. „Mit meinem Gott kann ich über Mauern springen“ ist natürlich Bildersprache. Mit dem Vertrauen, was mir mein Gott gibt, mit dem Glauben und dem Trost, den er mir schenkt, kann ich Trennlinien überwinden. Das ist für den Psalmbeter zunächst einmal eine ganz individuelle Trennlinie. Dass er offen sein kann für andere Menschen, für das Leid anderer, die Not anderer. Aber auch, dass er über seine eigenen Begrenztheiten im Vertrauen auf seinen Gott springt. Für mich ist dieser Psalm also zunächst einmal individuell zu deuten. Wie man aber als Institution springen kann, wenn man an die großen Fragen denkt, wo wir Mauern aufgebaut haben, da bekommt die Sache wieder eine ganz andere Qualität. Das wird nicht so ganz einfach sein. Wenn ich beispielsweise unsere katholische Kirche sehe. Wir haben ja auch Mauern um uns rum aufgebaut. Wir wären sicherlich näher an den Menschen dran, wenn wir diese Mauern nicht hätten.


Welche wären das?
Naja, zum Beispiel Richtlinien, die im Kirchenrecht verankert sind, dass wir bestimmte Gruppen von Menschen von Sakramenten ausschließen. Beispielsweise diejenigen, die nach einer zivilen Scheidung wiedergeheiratet haben. Das sind auch Mauern. Und genau da muss man sich den Psalmbeter wieder vor Augen führen, der sagt: „Mit meinem Gott spring ich über Mauern.“ Über welche Mauern…? Das müssen wir uns als Kirche auch fragen.


Wäre es nicht eigentlich Aufgabe eines Ordens wie der Steyler Missionare Menschen zu ermutigen mit Gott über Mauern zu springen, mit dem Ziel, dass es immer mehr werden, und damit eine Bewegung ins Leben ruft?
Das ist sicherlich eine schöne Idee. Tun wir ja auch schon in einigen Ansätzen. Wir leben ja in vielen Ländern in internationalen Gemeinschaften mit Menschen aus den unterschiedlichsten Kulturkreisen. Auch da müssen wir Mauern überspringen und Mauern einreißen. Da tun wir es oft ganz bewusst, wobei sicherlich nicht alles gelingt. Aber es ist richtig: Als Missionare stehen wir natürlich in besonderer Weise in der Bringschuld dieses „Mauern- Überspringen“ noch mehr zu thematisieren. Wir müssen Menschen mehr dazu auffordern. Aber das ist nicht einfach. Da komme ich noch einmal auf das Thema Kirche zurück. Wir müssen uns als Kirchenvertreter hinterfragen. Die Dinge, die uns lieb geworden sind, halten vielleicht auch viele Menschen von uns ab. Ich denke da an unsere Liturgien. Die sind für viele ältere Menschen etwas Gewohntes, ja sogar Liebgewordenes. Bei vielen jungen Menschen ist das sicherlich oft anders. Teilweise ist die Liturgie, wie wir sie heute feiern, vielen Menschen völlig unverständlich. Dadurch entsteht eine Barriere. Wir Steyler können andere Wege gehen. Natürlich immer in dem Rahmen, der uns vorgegeben ist, wo wir wieder bei den Mauern wären, aber da sollte man vielleicht etwas mehr Mut aufbringen, die eine oder andere Mauern zu den Menschen zu überspringen.


Die Steyler sagen über sich selbst, dass sie Brücken bauen wollen zwischen den unterschiedlichen Kulturen und Religionen dieser Welt. Wie sieht das genau aus?
Der ganz große Begriff im zweiten vatikanischen Konzil war ja der des Dialogs. Das haben wir Steyler gut aufgegriffen. In vielen unserer ordensinternen Dokumente wurde immer wieder thematisiert, dass wir hinübergehen müssen über diese Trennlinien zwischen Kulturen und Denkweisen. Hinüber zu Anderen, zu den uns fremden Menschen, Kulturen. Dort müssen wir das leben, wovon wir überzeugt sind, nämlich unsere christliche Botschaft. In eine fremde Kultur zu gehen, heißt über eine Trennlinie zu gehen. Wir können dabei aber nicht mit einem fertigen Konzept ankommen – mit einer fertigen Theologie, die wir von oben den Menschen überstülpen. Stattdessen müssen wir das gemeinsam mit den Menschen erarbeiten, was viel Hinhören und Verstehen-Wollen bedeutet. Das ist für mich Brückenbauen und eine dialogische Haltung, was mit unserem alten Missionsverständnis sehr schwer zu vereinbaren ist. Aber nur so kann Verständnis zwischen den Kulturen geschaffen werden. Das heißt nicht Friede, Freude, Eierkuchen, sondern dass wir uns mühen müssen, damit ein Zusammenleben verschiedener Kulturen möglich wird. Und noch eines scheint mir sehr bedeutend: Wer mit der allein selig machenden Wahrheit schulmeisterlich daher kommt, hat in der modernen Welt keine große Chance nachhaltig gehört zu werden. Wir kennen ja genügend Konflikte in den verschiedensten Ländern der Erde, die auf Kultur, Tradition, Religion beruhen. Da ist es für uns ein „Muss“, den Menschen vorzuleben, dass es anders gehen kann. Und das ist ein ganz wichtiger Aspekt unserer Missionsarbeit. Nicht nur irgendwo in Asien oder Afrika, sondern auch hier in Deutschland, wo wir ja auch gerade bei den jüngeren Mitbrüdern sehr international aufgestellt sind.


Sie waren in der Mission in Kanada. Gibt es da ein Beispiel für einen Brückenbau.
Ich habe zumindest die Brücke gebaut, dass ich etlichen Studenten zeigen konnte, dass Deutsche nicht nur mit Nazis in Verbindung gebracht werden müssen. Wenn in meinen Theologieseminaren die Rede auf das „Böse“ kam, wurde immer als Beispiel Nazideutschland und Hitler angeführt. Nach dem zehnten Mal hat es mich wirklich genervt und ich habe dazu Stellung genommen. Das wurde sehr positiv wahrgenommen. Das war denen selbst gar nicht bewusst. Was ich von den Steylern, von den Deutschen mitgeben konnte, war, dass dies nicht nur die bösen Deutschen sind und sich die Welt seit 60 Jahren gedreht hat, wenn ich das so sagen darf. Aber um dies den Menschen wirklich klar zu machen, muss man sich mit dem Leben reingeben, da ist das Verbale die eine Sache, eine andere die handgreifliche Realität. Das kann sich nicht nur in der Kirche abspielen, sondern auch zwischen den Menschen. Das Schneeschippen, so banal sich das anhört, hat auch geholfen. Ich bin oft morgens sehr früh mit der Schneefräse rund um unsere Kirche und unser Pfarrhaus gefahren. Das hat einen ganz ungewollten Eindruck gemacht. Ich bekam anerkennend zu hören: „Der kann sich ja auch die Hände dreckig machen.“


Pater Conrad, es gibt eine schöne Bibelstelle, die auch recht bekannt ist: „Die Mauern von Jericho“. …Bevor die Israeliten nach Kanaan einziehen konnten, mussten sie die Festungsmauern von Jericho überwinden. Dies schien aussichtslos, doch am Ende gelang es. Sieben Priester der Israeliten zogen mit Trompeten siebenmal um die Stadt herum. Dann bebten die Mauern und stürzten ein. Statt eines Angriffs zogen die Israeliten in friedlicher Prozession um die Stadt. Am Ende rissen sie friedlich eine Mauer ein. Womit wir wieder beim Ausgangspunkt wären. Denn die Mauer, die vor 50 Jahren gebaut wurde, wurde auch durch friedliche „Wir-sind-ein-Volk“-Demonstrationen niedergerissen. Wie können wir heute Mauern niederreißen?
Das ist sehr schönes Bild. Jericho galt als uneinnehmbar. Dass sie doch gefallen ist, war Gotteswerk. Auch wieder: Mit meinem Gott, kann ich über Mauern springen. Die Mauer, die unser Land getrennt hat. Die war obsolet geworden. Es war der Zeitpunkt gekommen. Es ist nur schade, dass man sich nur in diesen Krisenzeiten zusammenfindet. Danach war mit der gemeinsamen Vision ja bald Schluss. Dennoch: Über Mauern springen heißt, die Menschen für etwas zu begeistern und je mehr es sind, desto höher ist die Chance, dass etwas bewegt werden kann. Dafür brauche ich klare Ziele, Leute mit Visionen, Leute, die etwas anstoßen, die etwas tun. Und oft geschieht das im Kleinen.


Lieber Pater Conrad, vielen Dank für das Interview.


Pater Fabian Conrad (49 Jahre) trat 1987 den Steyler Missionaren bei und ist seit 2002 Schulrektor des Arnold-Janssen-Gymnasiums im saarländischen St. Wendel. Seit September 2010 ist zudem Missionssekretär der Deutschen Provinz der Steyler Missionare und verantwortlich für die missionarische Bewusstseinsbildung.

Tamara Häußler-Eisenmann