2. Adventssonntag (A)

Predigtimpuls

„Er wird die Armen richten mit Gerechtigkeit“ (Jes 11,4)

 1. Lesung: Jes 11,1-10
2. Lesung: Röm 15,4-9
Evangelium: Mt 3,1-12

Der Schrei nach Gerechtigkeit

Fast täglich lesen wir in den Tageszeitungen Titel wie die folgenden: „Gewaltsamer Einbruch in Vorstadtwohnung mit erheblichem Sachschaden“ – „Vergewaltigung einsamer Spaziergängerin“ – „Ehemann prügelt seine Frau krankenhausreif“ – „Eltern misshandeln ihr Kleinkind“, usw., usw.. Durch Gewaltanwendung geschieht Unrecht und entsteht erheblicher Schaden an Sachen und Personen. Und das immerfort, nicht nur täglich, sondern stündlich und noch öfter. 

Auf Gerichten wird Recht gesprochen, Schaden wieder gutgemacht und Gerechtigkeit bis zu einem gewissen Grad wiederhergestellt. Das gelingt einigermaßen zufriedenstellend in den westlichen Demokratien. Es ist auch gelungen, sog. internationale Gerichtshöfe einzurichten, an denen Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord verhandelt werden. Aber wenn es auch gelingt, hier oder dort einen Brand zu löschen, so bricht das Feuer der Gewalt und der Ungerechtigkeit anderswo wieder erneut aus. Es gibt auch immer noch Länder, in denen die Richter korrupt sind. Sie lassen sich mit Geld bestechen. Die Gerechtigkeit bleibt auf der Strecke. Oder die Politik mischt sich in die Rechtsprechung ein und pervertiert sie. Oppositionelle und Journalisten werden misshandelt und ungerecht verurteilt. Ihr Schrei nach Gerechtigkeit geht weiter, und das Recht wird mit Füßen getreten.

In den westlichen Demokratien ist allerdings auch nicht alles Gold, was glänzt, wenn es um Gerechtigkeit geht. Das Stichwort „soziale Gerechtigkeit“ genügt, um zu verstehen, was gemeint ist. Wir kennen die sog. „Reformstaus“ und die faulen Kompromisse bei Reformen. Auf der Strecke bleibt die soziale Gerechtigkeit. Der Schrei nach wahrer Gerechtigkeit erhebt sich weiter. Es stellt sich die grundsätzliche Frage: Ist denn gar kein Kraut gegen Gewalt und Ungerechtigkeit gewachsen?

 

Die Verheißung des gerechten Königs

Auch in Israel erhob sich der Schrei nach Gewaltlosigkeit und Gerechtigkeit. Eigentlich sollte der König für sie sorgen. Er hatte eine dreifache Aufgabe: Erstens, er hat das Volk gegen äußere Feinde zu verteidigen; zweitens, er hat sich für Gerechtigkeit im Inneren des Volkes einzusetzen; drittens, er hat für die Schwachen der Gesellschaft, d. h. in der damaligen Zeit für die Witwen und Waisen, sowie für die Fremden zu sorgen.

Das war leider nicht geschehen. Kein König hat es zustande gebracht, für wahre Gerechtigkeit und Gewaltlosigkeit in Israel zu sorgen. Der Prophet Jesaja klagt über die ungerechten Verhältnisse in Jerusalem: „Wie ist zur Dirne geworden die treue Stadt, die voll war des Rechts! Gerechtigkeit wohnte in ihr, jetzt aber Mörder! Dein Silber ist zu Schlacken geworden, dein Wein mit Wasser verfälscht. Deine Führer sind Aufrührer und Gesellen der Diebe. Sie alle lieben Bestechung und jagen Geschenken nach. Der Waise helfen sie nicht zum Recht, und die Sache der Witwe kommt nicht vor sie“ (Jes 1,21-23). 

Auf diesem Hintergrund von Ungerechtigkeit und Gewalt entstand die Hoffnung, dass Gott einen idealen König senden und mit der Vollmacht ausstatten werde, wahre Gerechtigkeit für sein Volk zu schaffen und es so zu einer gewaltfreien Gesellschaft zu machen. Die erste Lesung des heutigen zweiten Adventssonntags, ein Text aus dem Prophetenbuch Jesaja, bringt diese Hoffung zur Sprache. „Ein Reis wird hervorgehen aus dem Stumpf Isais ... Auf ihm wird ruhen der Geist des Herrn ... Er wird die Armen richten mit Gerechtigkeit ... Er wird den Tyrannen schlagen mit dem Stabe seines Mundes und den Gottlosen töten mit dem Hauche seiner Lippen (d. h. durch sein Wort, das sie bekehren wird) ... Nichts Böses und
nichts Verderbliches wird man tun auf meinem ganzen heiligen Berge“ (Is 11, 1-9). 

Es gibt also ein „Kraut“, das gegen Ungerechtigkeit und Gewalt gewachsen ist: das Reis aus der Wurzel Isais oder Jesses, d. h. des Vaters Davids. Gemeint ist der Messias. Wenn er kommt, dann wird er auf dem „heiligen Berg Gottes“, d. h. im messianischen Israel eine gerechte und gewaltlose Gesellschaft schaffen. Diese Verheißung hat Israels Hoffnung über Jahrtausende genährt.

 

Es ist ein Ros entsprungen

Unser Weihnachtslied „Es ist ein Ros entsprungen aus einer Wurzel zart, wie uns die Alten sungen, von Jesse war die Art“, bezieht sich auf den Text der heutigen ersten Lesung. Es drückt unseren Glauben aus, dass Jesus der verheißene Messias ist, der Gerechtigkeit und Gewaltlosigkeit geschaffen hat. Aber – hat er das wirklich? Ist er wirklich der Messias? Gewalt und Ungerechtigkeit gehen doch trotz seines Gekommenseins weiter.

Man erzählt folgende jüdische Geschichte: Einem Rabbi wird von seinen Schülern die Nachricht gebracht: „Der Messias ist gekommen!“ Der Rabbi stand auf, ging ans Fenster, blickte auf die Straße, kam zurück und setzte sich wieder hin. „Was ist nun? Was sollen wir tun?“ fragten die Schüler. „Nichts sollt ihr tun, weiterlernen sollt ihr“, sagte der Rabbi. „Wie kann der Messias gekommen sein, wenn nichts in der Welt sich verändert hat?“

Das ist ein ernster jüdischer Einwand gegen unseren christlichen Glauben, dass Jesus der verheißene Messias sei. Und doch haben wir Grund, an unserem christlichen Glauben festzuhalten. Jesus ist der verheißene Messias. Er hat begonnen, die Verheißungen der Propheten zu erfüllen. Als Johannes der Täufer seine Jünger zu ihm schickte und fragen ließ: „Bist du es, der da kommen soll, oder sollen wir auf einen anderen warten?“ (Mt 11,2-5), da verweist Jesus auf Prophetenworte, die er durch sein Wirken in Erfüllung gehen lässt. Das gilt auch für das, was unsere Lesung verheißt. Jesus hat tatsächlich begonnen, es zu erfüllen. Er hat eine Jüngergemeinde geschaffen, in der Gerechtigkeit und Gewaltlosigkeit herrschen
sollen. Wir kennen z. B. folgende Anweisungen: „Wenn dich jemand auf die rechte Wange schlägt, so halte ihm auch die linke hin“ (Mt 5,39). Oder denken wir daran, wie Jesus dem Petrus sagt, dass er nicht nur siebenmal, sondern siebenundsiebzigmal, d. h. praktisch immer seinem Bruder verzeihen soll (vgl. Mt 18,21-22).

Wir könnten mit der Aufzählung vieler weiterer Texte fortfahren. Es ist jedoch klar: Jesus will eine Jüngergemeinde, in welcher sich das verwirklicht, was der Jesajatext im Bild des Tierfriedens ausgedrückt hat: „Da wird der Wolf zu Gast sein bei dem Lamme und der Panther bei dem Böcklein lagern (Jes 11,6). 

 

Es liegt an uns

In seinem Brief an die Galater hat Paulus den schlimmen Satz geschrieben: „Wenn ihr aber einander beißt und auffresst, so sehet zu, dass ihr nicht voneinander aufgerieben werdet“ (Ga 5,15). So etwas ist also in der Jüngergemeinde Jesu möglich! Aber das ist Abfall von dem, was Jesus will. Auch das Gegenteil ist möglich. Das bestätigt Paulus der Gemeinde von Thessalonich: „Ihr seid allen Gläubigen in Mazedonien und Achaja zum Vorbild geworden (1 Thess 1, 7). Wir als Jesu Jüngergemeinde heute können durch unser Verhalten zum Skandal, aber auch zum Licht der Welt werden. Es liegt an uns, ob sich erfüllt, was unsere Lesung in ihrem letzten Satz sagt: „An jenem Tage, da werden sich die Heiden wenden an das Wurzelschoss Isais, das als Panier der Völker dasteht; und sein Wohnsitz wird herrlich
sein (Jes 11, 10). Jesus ist nach unserem Glauben das Reis aus der Wurzel Jesse. Er ragt als Zeichen für die Völker empor. Wir sind seine Wohnung. Dieser Wohnung ist verheißen, dass sie „herrlich“ sein wird. Wir haben das zweite Licht auf dem Adventskranz angezündet. Wie das erste Licht soll es uns an unsere Sendung in dieser Welt erinnern. Wir erfüllen diese Sendung, wenn wir Jesu Weisung befolgen: „So soll euer Licht vor den Menschen leuchten, damit sie euren guten Werke sehen und euren Vater, der im Himmel ist, preisen“ (Mt 5,16).

P. Dr. Dieter Skweres SVD

 

 

Eine neue Chance ergreifen

 

Sich nichts vormachen

Doch, es gibt sie, die Situationen, in denen ich mich so ganz am Ende fühle und meine, jetzt geht nichts mehr. Wie viele Male habe ich versucht, wieder von neuem anzufangen! Wie viele wohlgemeinte und sicherlich auch gute Ratschläge habe ich schon gehört! Aber all dies verhalf nicht zu einer Erneuerung, zu einem Neuanfang. Und dabei sollte mir doch der Glaube eine Hilfe sein. Das Vertrauen in Gott – durch Gebet immer wieder belebt und erneuert – hat sich ebenfalls nicht als situationsverändernd gezeigt. Wie viele Menschen haben es schon vor mir probiert und sind enttäuscht worden, haben aufgegeben! Wo ist da der „Allmächtige Gott“, den wir so oft in unseren Gebeten anrufen, der doch alles in der Hand halten und regieren soll, wie man sagt? Auch das Volk Israel hat ähnliche Erfahrungen gemacht. Das Vertrauen in Gott und den König schien ins Leere zu fallen, verloren und tot. Man hatte sich eingerichtet. „Wes’ Brot ich ess, des’ Lied ich sing.“ Einige sind dabei auch gar nicht so schlecht gefahren, wie sie meinten. Aber diejenigen, die ihrem Glauben und ihrer Tradition treu bleiben wollten, konnten sich nicht damit abfinden. In ihnen war doch noch ein Rest von Hoffnung, ein Funke des Glaubens geblieben. Sie hatten nicht aufgegeben. Sie bliesen nicht in das gleiche Horn wie alle. Sie sahen einfach weiter und hielten Veränderung für möglich. Aber wie sollte das vor sich gehen? Das hätten sie sicherlich auch nicht sagen können. Jedoch es brannte in ihnen dieser kleine Funke Hoffnung: Gott, Jahve, wird uns befreien von allen falschen Bindungen und Göttern. Er richtet nicht nach dem Augenschein (Jes 11,3b), sondern steht vielmehr gerade auf der Seite derjenigen, die immer wieder am Rande leben oder sogar ausgeschlossen sind. Er wird alles erneuern und sein Wirken wird ein Leben gestalten, das man sich nur träumen kann ... ja, noch nicht einmal das. So unbegreiflich, so anders wird es sein. Sollte das möglich sein, dass die verschiedensten Rassen und Völker sich wirklich verstehen und friedlich bei- und miteinander wohnen und leben können!

 

Mut haben, einen anderen Weg zu gehen

So wie die Israeliten damals, gibt es auch heute Menschen, die nicht einfach mit dem Strom schwimmen oder den vielen Modeerscheinungen der Zeit nachlaufen. Sie sind kritisch und fortschrittlich eingestellt. Sie „beten“ nicht einfach alles nach, was gesagt oder behauptet wird. Sie haben auch den Mut, öffentlich ihre abweichende Meinung zu sagen und dafür einzutreten. Sie glauben an diesen Traum des Miteinander, wo scheinbar unüberwindbare Grenzen nicht mehr gelten. Sicherlich, dies wird sich nicht von heute auf morgen ergeben. Es gibt Abstufungen, immer wieder Rückschläge und neue Versuche. Wie sonst wäre die Menschheit vorwärts gekommen, wenn nicht immer wieder Menschen das „Unmögliche“ versucht hätten – bis hin zum Einsatz ihres Lebens. Dabei wird sich bald herausstellen, aus welchem Motiv heraus jemand handelt: schaut er mehr auf sich selbst und seinen Vorteil, wird er mehr von einer Ideologie geleitet oder ist ihm am Wohl der anderen gelegen. Wo der Geist des Herrn sich niederlässt, da bewirkt er Neues, Unerhörtes, Außerordentliches.

 

Erfahrung von Macht und Ohnmacht

Nun, wir reden und erfahren tagtäglich, was es mit der Globalisierung auf sich hat – wo sich Vorteile oder mehr menschliche Nähe und Möglichkeiten ergeben. Auf der anderen Seite erleben wir aber auch allzu schmerzlich (oder vielmehr die unmittelbar Betroffenen!), wie die politischen und wirtschaftlichen Machtfaktoren sich in einer „ungeheuren“ Weise auf Kosten der Armen und Ausgeschlossenen immer mehr verselbständigen. Sie entfernen sich immer weiter von einer Vision unserer Welt und der Menschheit, die für alle gleichermaßen den nötigen Raum bietet. Kleine, mitunter unbeholfene Versuche, ein wenig mehr Lebensqualität und Wohlstand zu erreichen, werden da mitunter entweder brutal niedergeschmettert oder haben nicht die geringste Chance gegen die Macht und den Einfluss der Supermächtigen. Der „kleine, junge Trieb“ erhält erst gar nicht die Möglichkeit, Wurzeln zu fassen und zu wachsen.

 

Hoffen in manchmal dunkler und trost-loser Zeit

Sollten wir da nicht die Zeitspanne des Advents nutzen, um die Botschaft des Propheten und das Lebens- und Glaubensbeispiel anderer Menschen, die vielleicht in unserer unmittelbaren Umgebung leben, heute neu zu verstehen? Dass wir das Kleine und Unscheinbare nicht gering achten, sondern als äußerst wertvoll und wirk-mächtig ansehen? Könnten nicht die kleinen Schritte vieler doch etwas Neues und Positives für mich und für andere bewirken, damit „Wolf und Lamm“ zusammen leben und jeder dem anderen seinen angemessenen Lebensraum gewährt? Freilich, das Beispiel, das uns die Leute von Jerusalem geben (Mt 3,6), nämlich ihre Sünden zu bekennen und sich taufen, d. h. erneuern zu lassen, scheint wohl dabei ein wichtiger Schritt für eine tiefgreifende persönliche Erneuerung zu sein. Und
dies wird dann mit der Zeit auch seine Auswirkungen auf andere, auf die Gesellschaft und ihre Wertvorstellungen haben. Bin ich bereit, mich da zu hinterfragen und auf einen solchen Prozess einzulassen?

 P. Heinz Schneider SVD

 

P. Dr. Dieter Skweres SVD / P. Heinz Schneider SVD